Sanctus
Es handelte sich um eine kurze Zusammenfassung von Livs Gespräch mit Arkadian zu ihrer seltsamen Geburt und ihre Erklärung, warum sie unterschiedliche Namen trugen. Der Abt las es sich durch und nickte vor sich hin. Das erklärte, warum sie bei den Background Checks für Samuels Aufnahme keine Schwester gefunden hatten.
»Machen Sie weiter«, forderte er den Informanten auf.
Der rote Text verschwand, und mehrere Minuten lang waren nur weiße Seiten zu sehen. Erst ganz zum Schluss, bei den Berichten aus der Pathologie, wurde es wieder rot.
Dieser neue Eintrag war in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste war nur eine Notiz, die besagte, die Leberzellen des toten Mönchs seien als kontaminiert eingestuft worden, da sie sich zu regenerieren schienen. Der Abt fragte sich, ob das wohl bewies, dass Bruder Samuel wirklich wieder zum Leben erwachte, wie es in der Prophezeiung stand, oder ob das nur eine Nachwirkung seines Kontakts zum Sakrament war. Als er jedoch den zweiten Teil las, ergab sich eine ganz neue
Interpretationsmöglichkeit, und sein Herz schlug mit jedem Wort schneller. Es handelte sich um eine kurze Anmerkung von Dr. Reis, der die DNA des toten Mönchs mit der DNA der jungen Frau verglichen hatte.
Der Abt starrte auf den Text, und die Ergebnisse und Schlussfolgerungen des Pathologen gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Die DNA-Proben waren identisch. Bruder Samuel hatte nicht nur eine Schwester, sie war sein Zwilling .
Diese eine Information gab allem einen Sinn. Die Prophezeiung war korrekt. Samuel war in der Tat das Kreuz gewesen. Aber er war gestürzt, und nun hatte das Mädchen, die Frau, sich an seiner Stelle erhoben: Fleisch von seinem Fleisch.
Sie war jetzt das Kreuz.
Sie war das Werkzeug, welches das Sakrament töten und die Welt von dieser Ketzerei befreien würde. Sie war der Schlüssel zu allem.
»Zerstören Sie die Datei«, befahl der Abt. »Kopieren Sie sie auf den Laptop, und dann löschen Sie sie aus der Polizeidatenbank.«
Der Informant zögerte. Er war offensichtlich nicht zu einem solchen Akt des Vandalismus bereit. Der Abt legte sanft die Hand auf die Schraube, und der Informant spürte eine leichte Vibration im Genick. Das reichte. Er gehorchte sofort. Er hängte einen Virus an die Originaldatei an, der zuerst den Inhalt, dann den Ordner und schließlich sich selbst zerstören würde.
Der Abt schaute auf das Handy, mit dem die UMTS-Verbindung hergestellt worden war. Seine Gedanken waren völlig mit diesen neuesten Informationen beschäftigt. Er musste Cornelius unbedingt mitteilen, dass die Frau so schnell wie möglich hergebracht werden musste, und zwar lebendig. Dann könnte er sie benutzen, um die Prophezeiung zu erfüllen und ein jahrtausendealtes Versprechen an Gott zu erfüllen. Das war sein Schicksal, erkannte er jetzt; dafür war er geboren worden. Er dachte an den Prälaten, der in der Dunkelheit lag und sich darum sorgte, was Gott wohl über sein Lebenswerk denken mochte, und er bemitleidete ihn. Er würde seinen Lebensabend nicht damit verschwenden, vergebenen Chancen nachzutrauern. Obwohl der Prälat ihn angewiesen hatte, nichts zu tun, hatte er den Mut besessen, auf sein Herz zu hören und alles Notwendige in die Wege zu leiten. Und jetzt waren sie hier.
Vor seinem geistigen Auge sah der Abt noch einmal, wie der Prälat sich das letzte Mal von ihm abgewandt und seine Bitte zu handeln mit einer Geste der knochigen Hand abgetan hatte. Der Prälat war schwach, aber stur, und diese Sturheit hätte sie nun beinahe ihre Erlösung gekostet.
Aber noch hatte der Prälat das Sagen.
Der Abt dachte darüber nach. Die Schwäche des Prälaten und dessen ablehnende Haltung könnten ihn noch immer davon abhalten, sein Schicksal zu erfüllen. Sich außerhalb des Bergs gegen das Wort des Prälaten zu stellen war eine Sache; im Berg war sein Einfluss jedoch ungleich größer. Die Leute fühlten sich dem Amt verpflichtet, wenn nicht sogar dem Mann. Der Prälat könnte ihn also aufhalten oder schlimmer noch: Er könnte das Kommando an sich reißen. Er könnte sich aus seinem Bett erheben und die prophetische Sequenz in Gang setzen, der letzte Akt eines Mannes, der sich nichts sehnlicher wünschte, als seinem langen, leeren Leben noch einen Sinn zu geben. Und wenn die Prophezeiung sich erfüllt hatte, was dann? Würden sie dann die Macht des Sakraments erhalten, wie viele Theologen glaubten? Würden sie wahrhaft unsterblich werden, anstatt nur von der Unsterblichkeit zu kosten? Falls
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