Sanctus
so hatte auch Athanasius Geschichten darüber gehört, was mit jenen geschah, die unerlaubt das Verbotene Gewölbe betraten, doch seines Wissens war seit Jahrhunderten niemand mehr dafür bestraft worden. Das lag zum Teil daran, dass die Welt sich weiterentwickelt hatte und derartige Barbareien nicht mehr toleriert wurden; der Hauptgrund war jedoch, dass sich schlicht niemand mehr traute, das Gewölbe ohne Genehmigung zu betreten. Bis dato war Athanasius nur ein einziges Mal im Verbotenen Gewölbe gewesen, und zwar, als man ihn zum Kammerherrn ernannt hatte, und seit damals hatte er gehofft, nie wieder dorthin zurückkehren zu müssen.
Als er nun pflichtbewusst durch das Zwielicht trottete, den Blick fest auf den hauchdünnen Lichtfaden im Boden gerichtet, fragte er sich, warum er ausgerechnet hierher beordert worden war und ob es wohl eine weitere furchtbare Entdeckung gegeben hatte. Vielleicht war es Samuel ja irgendwie gelungen, kurz vor seiner spektakulären Flucht in die Bibliothek vorzudringen. Vielleicht hatte er ja einige heilige und unersetzbare Texte gestohlen oder zerstört ...
Der Leuchtfaden im Boden bog scharf nach rechts ab. Das markierte den Eingang zum letzten Gang, der in das Gewölbe führte.
Aber was auch immer der Abt für einen Grund haben mochte, ihn hierherzurufen, Athanasius würde es bald herausfinden.
K APITEL 23
«Das Opfer weist frische Schnittwunden und Traumata an Händen und Füßen auf«, sagte Reis und setzte die erste Untersuchung des Leichnams fort. »Die Schnitte sind zahlreich und tief, in einigen Fällen bis auf die Knochen. Außerdem sind sie unregelmäßig und ausgefranst. In manchen Wunden finden sich überdies Fragmente von etwas, das wie Steinsplitter aussieht. Ich entnehme diese Fragmente und leite sie zur Untersuchung weiter.«
Er hielt die Hand übers Mikrofon des Headsets und drehte sich zu Arkadian um.
»Er ist raufgeklettert, bevor er gesprungen ist, korrekt?«
Arkadian nickte. »Soweit wir wissen, gibt es keinen antiken Lift da drin.«
Reis drehte sich wieder um, schaute sich die zerschundenen Hände und Füße an und stellte sich die gewaltige Höhe der Zitadelle vor. »Das war eine ziemlich harte Kletterpartie«, bemerkte er, nahm die Hand vom Mikrofon und machte weiter.
»Die Wunden an Händen und Füßen des Opfers weisen ein hohes Maß an Blutgerinnung auf, was darauf schließen lässt, dass die Verletzungen ein paar Stunden vor dem Tod eingetreten sind. An den kleineren Wunden hat sich überdies bereits Narbengewebe gebildet, an einigen über den Gesteinssplittern. Allein aufgrund der Heilungsrate schließe ich, dass das Opfer schon mehrere Tage dort oben gewesen sein muss, bevor es gesprungen ist.«
Er untersuchte den Arm des Toten.
»Das Seil, das um das rechte Handgelenk des Opfers gewickelt war, hat starke Abschürfungen verursacht und die Epidermis an einigen Stellen vollständig entfernt. Das Seil ist grob, rau und besteht offenbar aus Hanf.«
»Das ist sein Gürtel«, erklärte Arkadian. Reis hob den Blick und runzelte die Stirn. »Sehen Sie sich die Soutane an. An der Hüfte.«
Reis’ Blick wanderte zu dem dunklen, fleckigen Stoff, und er entdeckte in Hüfthöhe eine dicke Lederschlaufe sowie zwei Löcher auf der anderen Seite, wo ihr Gegenstück hätte sein sollen. Die anderen Risse in der Soutane hatte er bemerkt, diejenigen unmittelbar über dem Saum und die beiden an den Ärmeln, aber den hier hatte er übersehen.
»Das Seil könnte der Gürtel des Opfers gewesen sein«, gab Reis zu Protokoll. »Etwa in der Mitte des Gewandes befinden sich Lederschlaufen, von denen allerdings eine zu fehlen scheint. Auch das Gewand wird zur weiteren Untersuchung an die Kriminaltechnik weitergegeben.«
Arkadian griff hinter Reis und drückte den blinkenden roten Knopf, um die Aufnahme anzuhalten.
»In anderen Worten«, sagte er, »unser Mann hier ist den Berg hinaufgeklettert, hat dabei seinen Gürtel als Kletterseil benutzt und sich Hände und Füße am Fels aufgeschnitten. Anschließend war er lange genug auf dem Gipfel, dass die Wunden zu heilen begonnen haben, und schließlich ist er dann vom Berg gesprungen und in einer ausreichend großen Zuschauermenge gelandet, um mir den Morgen zu verderben. Fall abgeschlossen.
Nun denn ... So gerne ich auch bleiben würde, ich habe noch ein paar Fälle zu erledigen, die zwar nicht ganz so spektakulär, aber dennoch wichtig sind. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, borge ich mir mal Ihr Telefon hinten bei
Weitere Kostenlose Bücher