Sanctus
Thomas.
Von dem Augenblick an, da Vater Thomas vor mehr als einem Jahrzehnt in die Zitadelle gekommen war, hatte man ihn anders als die anderen Mönche behandelt. Wie bei den meisten Bewohnern des Bergs war seine Vergangenheit unbekannt, aber was auch immer er in seinem Leben draußen getan haben mochte, schon bald war offensichtlich geworden, dass er ein Experte in der Erhaltung antiker Dokumente und ein Genie in Elektronik war. Schon in seinem ersten Jahr hatte der Prälat persönlich ihm die Erlaubnis erteilt, die Bibliothek von Grund auf zu renovieren. Diese Aufgabe hatte ihn fast sieben Jahre seines Lebens gekostet. Allein ein Jahr hatte er dafür benötigt, mit unterschiedlichen Lichtfrequenzen und ihren Auswirkungen auf die verschiedenen Tinten und Schreiboberflächen zu experimentieren. Das Beleuchtungssystem, das er daraufhin entwickelt und gebaut hatte, war in seiner Einfachheit schlicht brillant und von den allerersten Gelehrten inspiriert, die im Licht einer einzigen Kerze durch diese Kammern gewandert waren.
Mit Hilfe eines Systems aus Bewegungs-, Druck- und Temperatursensoren hatte Vater Thomas eine Umgebung geschaffen, in der die Bewegungen eines jeden, der die Bibliothek betrat, von einem Zentralrechner verfolgt wurden, der dem Betreffenden wiederum mit einer Lichtsäule folgte, die nur seine unmittelbare Umgebung erhellte. Dieses System war so sensibel, dass jeder Mönch, der von ihm erfasst wurde, anhand von winzigen Unterschieden in Körpertemperatur, Größe, Gewicht und Bewegung identifiziert werden konnte. Das hieß, dass der Computer nicht nur die Bewegungen jedes Besuchers überwachen konnte, er wusste auch, wer dieser Besucher war und wohin er ging, und damit stellte er eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme dar.
Athanasius verließ die Eingangshalle und folgte den im Boden versenkten Lichtbändern, die ihm den Weg durch die Dunkelheit wiesen. Gelegentlich traf er auf andere Gelehrte, die in ihren Lichtblasen wie Glühwürmchen an ihm vorbeihuschten.
Eine weitere Neuerung, die von Vater Thomas eingeführt worden war, stellte die Aufteilung der Bibliothek nach Alter, Tinte und Papiertyp der Manuskripte dar, und das Licht in jeder Sektion war den Bedürfnissen des Materials angepasst. Je weiter Athanasius also in die Bibliothek vordrang, dorthin, wo die ältesten Manuskripte lagerten, desto schwächer wurde das Licht und nahm einen orangefarbenen Ton an. Es war, als würde er durch die Zeit zurückwandern und die gleichen Bedingungen erleben, unter denen die hier gelagerten Dokumente vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden entstanden waren.
Im hintersten Teil der Bibliothek lag das kleinste und dunkelste Gewölbe von allen. Hier wurden die ältesten, empfindlichsten und wertvollsten Manuskripte verwahrt: Pergamentfetzen, die im Laufe der Zeit dünn geworden waren, und uralte, in brüchigen Stein gekratzte Worte. Bei den seltenen Gelegenheiten, da es überhaupt schien, war das Licht im Verbotenen Gewölbe von tiefroter Farbe wie die Glut eines verlöschenden Feuers.
Nur drei Leute besaßen das uneingeschränkte Recht, diesen Raum zu betreten: der Prälat, der Abt und Vater Malachi, der Chefbibliothekar. Alle anderen mussten sich erst die Erlaubnis eines dieser drei einholen, doch die wurde nur selten gewährt. Sollte jemand ohne Erlaubnis hier reingehen, dann blieb das Licht aus, und ein stummer Alarm würde den Wächter rufen, der in der Eingangshalle wartete.
Die Strafe für das unerlaubte Betreten des Verbotenen Gewölbes war traditionell hart, stets öffentlich und diente als Abschreckung. In der Vergangenheit waren den Betreffenden vor der versammelten Priester- und Bruderschaft die Augen ausgestochen worden, um sie von dem zu reinigen, was sie gesehen haben könnten; man hatte ihnen die Zunge herausgeschnitten, damit sie nicht wiedergeben konnten, was sie erfahren hatten; und schließlich hatte man ihnen geschmolzenes Blei in die Ohren gegossen, um die verbotenen Worte wegzubrennen, die ihnen dort zugeflüstert worden waren.
Anschließend wurde der derart verstümmelte Übeltäter aus der Zitadelle geworfen, denn alle sollten sehen, wie gefährlich Ungehorsam und die Suche nach verbotenem Wissen waren. Von diesem grausamen Ritual stammte das Sprichwort: ›Nichts Böses sehen, hören oder sagen‹. Dass dieses Sprichwort auch noch verlangte, seinem Nächsten nichts Böses zu tun, wussten nur wenige, und angesichts seines Ursprungs war das auch ein Hohn.
Wie jeder in der Zitadelle
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