Sanctus
vorspulen?«, fragte Arkadian.
Der Wachmann drückte wiederholt eine Taste, und das Bild lief erst in Fünf-, dann in Zehn-Sekunden-Schritten. Als die Zeitanzeige neun Uhr siebzehn erreichte, trat eine andere Gestalt ins Bild.
»Langsamer«, sagte Arkadian.
Der Wachmann schaltete wieder auf Normalgeschwindigkeit zurück.
Der Neuankömmling war groß, hatte schwarzes Haar und trug schwarze Kleidung. Sein Gesicht konnten sie nicht sehen. Er hatte der Kamera die ganze Zeit über den Rücken zugekehrt. Der Mann ging an der Bahre vorbei und hielt vor der Schublade, die auch Arkadian geöffnet hatte. Mit der behandschuhten Hand zog er sie auf. Liv schlug das Herz bis zum Hals. Sie sah die Umrisse eines Leichensacks.
Der Mann öffnete ihn. Trotz der schlechten Bildqualität erkannte Liv das bärtige Gesicht sofort, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Einen Augenblick später veränderte der Eindringling seine Position und verdeckte Samuels Gesicht mit seinem Körper. Er schien nach irgendetwas in der Jackentasche zu suchen. Dann zog er einen Handschuh aus, fand, wonach er gesucht hatte, und beugte sich über den Toten. Plötzlich wirbelte er zur Tür herum. Irgendetwas hatte ihn gestört. Dabei hielt er jedoch den Kopf gesenkt – offenbar wusste er von der Kamera –, aber Liv erkannte ihn trotzdem.
»Gabriel ...«, keuchte sie. »Das ist der Mann, der mich gestern am Flughafen abgeholt hat.«
Arkadian schnappte sich das Telefon vom Tisch, den Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet. Der Mann zog den Leichensack wieder zu, schloss die Schublade, legte sich auf die Bahre und zog die Plastikplane über sich.
»Hier spricht Inspektor Arkadian. Wir hatten gerade einen Einbruch in der Leichenhalle, und wir haben auch einen Verdächtigen: weiß, männlich, schlank. Zwischen ein Meter achtzig und ein Meter neunzig groß. Schwarze Kleidung ...«
Zwei Sanitäter betraten den Raum. Sie schoben eine Bahre vor sich her. Der größere der beiden schaute zur Kamera hinauf, doch sein Gesicht war nicht zu erkennen. Beide trugen OP-Masken, Kappen, Laborkittel und OP-Handschuhe. Arkadian schaute zu, wie die beiden Männer direkt zu der Schublade gingen, in der Samuel lag. Sie überprüften den Inhalt des Leichensacks, hoben ihn auf die Bahre, schlossen die Schublade wieder und schoben die sterblichen Überreste von Samuel Newton aus dem Bild. Die gesamte Operation dauerte nicht länger als fünfzehn Sekunden.
Gabriel erhob sich von seiner Bahre und folgte den Männern. Die Plastikplane blieb so zurück, wie Liv und Arkadian sie gefunden hatten.
Arkadian legte die Hand auf die Sprechmuschel. »Gibt es auch eine Kamera an der Laderampe?«
Das Bild der Kühlkammer wurde von dem einer Betonplattform ersetzt mit einem Krankenwagen auf der einen und einer Tür mit Plastikvorhang auf der anderen Seite. Liv fühlte sich unwillkürlich an den Eingang eines Schlachthofs erinnert.
Nach ein paar Sekunden wurde eine Bahre durch den Vorhang geschoben. Die beiden Sanitäter warfen sie förmlich in den Krankenwagen.
Arkadian nahm die Hand wieder von der Muschel. »Wir haben ein neues Ziel. Geben Sie eine Fahndung nach einem Krankenwagen heraus, der vor kurzem von der städtischen Leichenhalle in Richtung Halleluja-Ring gefahren ist. Kennzeichen unbekannt. Die Verdächtigen sind zwei Männer, weiß, von durchschnittlichem Körperbau, einer vielleicht eins achtzig groß, der andere kleiner, beide als Sanitäter verkleidet. Die Verdächtigen werden wegen Einbruchs und Diebstahls gesucht, und sie sind auf der Flucht. Ein Bild des sekundären Verdächtigen folgt so schnell wie möglich.«
Er legte auf. »Können Sie Einzelbilder aus dem Material herauslösen und sie per E-Mail ins Polizeihauptquartier schicken?« Das war keine Frage.
Arkadian wartete nicht auf die Antwort des Wachmanns. Er musste mit Reis reden.
K APITEL 65
Gabriel schlüpfte in den verlassenen Postraum und duckte sich unter dem Tresen hindurch, auf dem sich noch immer die Morgenpost stapelte. Nach Ertönen des Feueralarms hatten die Angestellten alles stehen und liegen lassen. Gabriel holte seine Tasche und den Helm, die er hier versteckt hatte, und schnappte sich einen mittelgroßen, gepolsterten Umschlag, als er Stimmen im Gang hörte.
»Alles okay da drin?« Eine Frau mittleren Alters stand in der Tür und beäugte Gabriel misstrauisch.
»Jaja ... Ich habe hier ein Paket für ...« Gabriel schaute auf den Adressaufkleber. »Ah ... Dr. ... Makin?« Er schenkte der
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