Sanctus
Blick und zuckte aufgrund ihres zerlumpten Äußeren unwillkürlich zurück.
»Ist schon okay. Sie gehört zu mir«, sagte Arkadian.
Der Mann holte ein Softpack Marlboro Light aus der Tasche.
»Danke«, sagte Liv, nahm sich eine und klopfte den Tabak auf dem Handrücken fest. »Ich weiß das zu schätzen.«
Der Beamte gab ihr Feuer, und Liv sog den trockenen Rauch ein. Sie gierte nach Nikotin. Die Zigarette schmeckte genauso schlecht wie diejenige, die man ihr im Verhörzimmer gegeben hatte. Trotzdem lächelte sie den Beamten an und folgte Arkadian die Straße hinunter.
»So«, sagte Arkadian, »wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?«
»Vor acht Jahren«, antwortete Liv und blies den beißenden Rauch aus. »Kurz bevor er verschwunden ist.«
»Und wissen Sie, warum er weggegangen ist?«
Liv verzog das Gesicht. Die Zigarette hatte einen furchtbaren Nachgeschmack. Was war nur mit ausländischen Zigaretten los? Die schmeckten alle wie verbrannte Reifen. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Nun, dann gehen wir etwas langsamer. Die Leichenhalle ist nur ein paar Straßen entfernt.«
Vorsichtig zog Liv noch einmal an der Zigarette und warf sie dann diskret in den Rinnstein. Hoffentlich sah der nette Mann, der sie ihr gegeben hatte, das nicht. »Das hat wohl kurz nach Dads Tod angefangen. Ich weiß nicht, wie viel Sie darüber wissen ...«
Arkadian rief sich die Akte ins Gedächtnis zurück, die er über die Vergangenheit des toten Mönchs zusammengestellt hatte, und den Artikel über den tragischen Autounfall. »Ich kenne die Einzelheiten.«
»Und wissen Sie auch, dass mein Bruder sich allein die Schuld dafür gegeben hat? ›Überlebendensyndrom‹ haben die Ärzte das genannt. Er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass er der Grund für alles war; er machte sich Vorwürfe, weil er noch lebte und unser Vater nicht. Er war lange in Therapie. Zu guter Letzt hat er sich dann der Religion zugewandt. Ich nehme an, so etwas passiert oft, wenn man nach Antworten sucht und sie im Hier und Jetzt nicht finden kann.«
Liv ging die Ereignisse von vor acht Jahren noch einmal in ihrem Geist durch: ihre Fahrt nach West Virginia; das Zirpen der Grillen auf Schwester Kintners Veranda, als sie Liv erzählt hatte, was sie wusste; der Sinn, den das alles für sie ergeben hatte, und die Klarheit ... und dann die Dunkelheit, die alles wieder vernebelt hatte, als sie ihre Entdeckungen mit Samuel geteilt hatte. »Ich hätte es ihm nie sagen sollen.«
»Seien Sie nicht so hart zu sich selbst«, sagte Arkadian. »Als Samuel sich die Schuld am Tod Ihres Vaters gegeben hat, haben Sie da genauso empfunden?«
»Nein.«
»Und haben Sie ihm gesagt, es sei nicht seine Schuld?«
»Natürlich.«
»Nun, und ich sage Ihnen jetzt: Samuels Tod war nicht Ihre Schuld. Was auch immer Sie zu ihm gesagt haben, von dem Sie glauben, es habe ihn vertrieben, er war schon längst auf dem Weg. Es gab nichts, was Sie hätten tun können, um irgendetwas daran zu ändern.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Wenn er Ihnen wirklich die Schuld an irgendetwas davon gegeben hätte, warum hat er sich dann solche Mühe gegeben sicherzustellen, dass wir Sie finden?«
Liv zuckte mit den Schultern. »Vielleicht um mich zu bestrafen.«
Arkadian schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Sie haben doch sicher schon über Entführungen, Vermisstenfälle und dergleichen berichtet, oder?«
»Ja.«
»Und was ist das Schlimmste daran? Für die Angehörigen meine ich.«
Liv dachte an die Menschen zurück, die sie interviewt hatte. Da waren die ständigen Spekulationen, was passiert sein könnte, die endlose Sorge und Unsicherheit ... Liv dachte an die Dämonen, die sie seit Samuels Verschwinden gequält hatten. »Das Schlimmste ist, nichts zu wissen.«
»Genau. Aber Sie wissen , was mit Samuel geschehen ist, denn er hat dafür gesorgt, dass Sie es erfahren. Er hat Sie nicht damit bestraft; er hat Sie befreit.«
Das Heulen einer Sirene erschreckte sie beide, und ein großer Feuerwehrwagen drängte sich durch den Verkehr und bog in die nächste Straße ein. Arkadian schaute ihm hinterher und rannte dann plötzlich los. Liv war kurz überrascht, doch schließlich lief sie ihm nach. Als er um die Ecke bog, holte sie ihn ein.
K APITEL 63
Menschen in Laborkitteln und Hemdsärmeln drängten sich auf der Straße, die Hände in die Hosentaschen gesteckt und die Schultern zum Schutz vor der Kälte hochgezogen. Der Feuerwehrwagen, der an Liv
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