Sanctus
auf dieser Reise auch ein paar Furcht erregende Gipfel erklettern würde, doch er hatte erwidert, auf diese Weise käme man Gott auch nicht näher. Was genau er damit meinte, hatte er jedoch nicht erklärt, und Liv hatte ihn auch nicht danach gefragt. Sie war einfach nur froh gewesen, dass er wieder einen Sinn im Leben gefunden hatte. Als sie ihm am Flughafen zum Abschied zugewunken hatte, hatte sie nicht einen Augenblick gedacht, dass sie ihn nicht mehr lebend wiedersehen würde.
Liv blinzelte die Tränen weg und schaute zur Zitadelle hinauf, die wie ein finsterer Splitter in den Frühlingshimmel ragte. Nun fühlte Liv den Schmerz, den ihr Bruder damals empfunden haben musste. Sie hatte sich nie die Schuld am Tod ihrer Eltern gegeben, doch nun gab sie sich die am Tod von Samuel. Egal was Arkadian auch denken mochte, es war ihre Suche nach Wissen gewesen, die sie die Wahrheit über ihre Geburt hatte herausfinden lassen, und dass sie ihrem Bruder diese Wahrheit ohne nachzudenken enthüllt hatte, hatte schließlich zu seinem Sturz vom Gipfel dieses verdammten Bergs geführt.
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss sie aus ihren Gedanken. Liv rieb sich die Tränen aus den Augen und drehte sich um. Ein untersetzter Zivilpolizist mit rundem, teigigem Gesicht und dünnem roten Haar stand in der Tür. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt, sodass sein Jackett ein wenig zurückgeschoben und das Schulterholster zu sehen war. Sein Hemd spannte sich an seinem Bauch, und an einer Schnur trug er die Dienstmarke um den Hals. Er schaute sie an.
Liv hatte schon eine gefühlte Million wie ihn gesehen. Das war der unsichere Typ, der einen unbedingt wissen lassen musste, dass er Polizist war, auch wenn er keine Uniform trug. Liv mochte diese Art Cop, denn sie redeten gerne, und das war stets von Vorteil, wenn man an einer Story arbeitete.
Der Mann legte die Stirn in Falten. »Sind Sie okay?«
»Ja. Ich ... Das ist gleich vorbei ...«
Der Mann nickte unsicher und versuchte sich an einem Lächeln. Dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter zurück. »Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass hinten ein Wagen für Sie bereitsteht, wenn Sie so weit sind. Ich werde Sie unauffällig raus und ins Hauptquartier bringen. Wir haben dort einen Trainingsraum, wo Sie auch duschen und sich umziehen können.«
Liv tupfte sich die Augen mit dem Hemdsärmel ab. »Sicher«, sagte sie und warf dem Mann ein Lächeln zu. »Und Sie sind ...?«
»Ich bin Suleiman«, sagte der Mann und deutete auf sein Namensschild. »Oder Sully, wenn Ihnen das besser gefällt.« ›Unterinspektor Suleiman Mantus, RPF‹, las Liv auf dem Schild.
»Okay«, sagte Liv zufrieden, dass man diesmal nicht wieder versuchen würde, sie zu entführen. »Gehen wir ... Sully.« Sie schnappte sich die Zeitung vom Tisch und folgte dem Mann hinaus.
Im Empfangsbereich ging es ungewöhnlich hektisch zu. Zwei Uniformierte bewachten den Eingang und überprüften jeden, der rein- oder rauswollte. Auf der anderen Seite der Tür sah Liv die Fernsehreporter. Die Kameras liefen, und die Scheinwerfer waren eingeschaltet. Eine Frau stand mit dem Rücken zum Gebäude und sprach in ihr Mikrofon. Liv folgte dem Unterinspektor in einen stillen Nebengang im hinteren Teil des Gebäudes. Dort stand ein weiterer Uniformierter an einer Tür, die nur mit einem Plastikvorhang verhängt war. Er nickte den beiden zu.
»Nach Ihnen ...« Sully trat beiseite.
Das Plastik blähte sich kurz auf; dann trat Liv in etwas hinaus, das sie zunächst für gleißendes Sonnenlicht hielt.
Eine Frau schrie: »Stehen Sie mit dem Verschwinden des Mönchs in Verbindung?«
Liv wirbelte herum, um in die Sicherheit des Gebäudes zu flüchten, doch der Unterinspektor packte sie am Arm und zerrte sie zu einem unauffälligen Wagen ein paar Meter die Gasse hinunter. Liv senkte den Kopf, sodass ihr das Haar ins Gesicht fiel.
»Sind Sie verhaftet worden?«, rief die Reporterin.
Ein Fotoblitz zündete rechts neben ihr, und ein Mann schloss sich der Fragerunde an.
»In welcher Beziehung stehen Sie zu dem Vermissten?«
»War ein Insider für den Diebstahl verantwortlich?«
Der Unterinspektor öffnete die Tür zum Fond des Wagens, schob Liv auf den Rücksitz und warf die Tür hinter ihr zu.
Liv hob just in dem Augenblick den Blick, als ein Kamerascheinwerfer den gesamten Innenraum erhellte. Sie riss den Kopf herum.
Der Wagen wippte, als Sully sich auf den Fahrersitz fallen ließ.
»Tut mir leid.« Er
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