Sanctus
musste sich erst einmal an der Wand abstützen.
»Das Kreuz ist zur Zitadelle zurückgekehrt«, sagte der Abt in sanftem Ton, als er auf das geschundene Gesicht von Bruder Samuel blickte.
Einen Augenblick starrten alle vier den Toten an; dann wurde der Leichensack wieder geschlossen, und die Sancti trugen ihn davon. Athanasius wartete darauf, dass sie wieder zurückkehrten und auch die anderen beiden Leichen holten, doch das taten sie nicht.
»Diese Unglücklichen müssen beseitigt werden«, sagte der Abt. »Es tut mir leid, dir diese Aufgabe übertragen zu müssen – ich weiß, dass du das abstoßend findest –, aber ich muss mich um Dinge von großer Wichtigkeit kümmern. Deine Brüder dürfen nicht in den unteren Teil der Zitadelle, und du bist der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann ...«
Der Abt machte nicht die geringsten Anstalten zu erklären, wer diese Männer waren oder warum sie nun tot auf dem Boden einer vergessenen Höhle lagen.
»Bring sie in den verlassenen Teil im Osten«, sagte er. »Wirf sie in einen der alten Kerker. Ihre Leichen werden vergessen werden, doch ihre Seelen werden Frieden finden.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch mal um und rieb sich die Hände, als wolle er sie waschen. »Die Tür wird sich in fünf Minuten automatisch schließen«, sagte er. »Sorg dafür, dass du bis dahin aus dem Raum bist.«
Athanasius lauschte, wie die Schritte des Abts in der Dunkelheit verhallten.
Das Kreuz ist zur Zitadelle zurückgekehrt ...
Athanasius erinnerte sich an die Worte aus der Ketzerbibel:
Das Kreuz wird fallen
Das Kreuz wird sich erheben
Er fragte sich, was die Sancti mit den entweihten Überresten seines Freundes vorhatten. Ohne Zweifel würde man ihn in die Kapelle des Sakraments bringen. Warum sonst hätten ihn Sancti geholt?
Aber sich vorzustellen, dass er sich wieder erhob ...
Das war Wahnsinn.
Athanasius schaute auf die Leichensäcke, und er fragte sich, was für ein Leben die beiden anonymen Toten wohl geführt hatten und wer sie vermisste. Eine Frau? Eine Geliebte? Ein Kind?
Athanasius kniete sich hin und sprach ein stummes Gebet für die beiden. Dann schleifte er sie rasch in die Vorkammer aus Angst, die Tür könne sich jeden Augenblick schließen und den Raum in sein eigenes Grab verwandeln.
K APITEL 71
Liv saß in einem Besprechungsraum der Leichenhalle, schaute sich das Foto ihres Bruders an und beschwor Bilder aus ihrer Vergangenheit herauf. Als sie Arkadian ihre Lebensgeschichte erzählt hatte, war alles wieder an die Oberfläche gekommen. Liv erinnerte sich noch gut daran, wie sie mit Samuel in ihrem Studentenwohnheim gesessen und ihm aufgeregt alles erzählt hatte, was sie auf ihrer Reise nach Paradise, West Virginia, herausgefunden hatte.
Vor ihrem geistigen Auge sah Liv ihn auf ihrer Bettkante sitzen, das Gesicht voller Schmerz und Leid, als sie ihm berichtete, wie sie beide in diese Welt gekommen waren. Was sie betraf, so waren damit all die unbeantworteten Fragen über ihre Identität geklärt, die sie seit ihrer Kindheit gequält hatten, und sie hatte gehofft, dass auch ihm dieses Wissen Frieden bringen würde. Doch Livs Versuch, den schwelenden Selbsthass ihres Bruders zu löschen, hatte ihn im Gegenteil noch weiter angefacht. Er gab sich schon die Schuld am Tod ihres Vaters, und nun hatte Liv ihm Grund gegeben, auch noch die Verantwortung für den ihrer Mutter zu übernehmen.
Wie ein Geist war Samuel aus ihrem Zimmer geschlichen.
Anschließend hatte er monatelang kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Er war nicht mehr ans Telefon gegangen. Liv hatte sogar bei seinem Therapeuten Nachrichten für ihn hinterlassen, bis sie herausgefunden hatte, dass er die Therapie abgebrochen hatte und stattdessen in die Kirche ging.
Das letzte Mal hatte sie ihn dann in New York gesehen. Er hatte sie aus heiterem Himmel angerufen, glücklich und voller Leben, ganz wie früher. Und er hatte ihr gesagt, er würde auf Reisen gehen und wolle sie vorher noch mal sehen.
Sie trafen sich an der Grand Central Station und verbrachten den Tag miteinander. Samuel sagte, er habe ein paar Dinge erkannt, die ihm einen Fokus beschert hätten. Er sagte, wenn jemand sterbe, damit ein anderer leben könne, dann sei dieser andere aus gutem Grund verschont worden. Solche Menschen würden einem höheren Zweck dienen, erklärte er, und die Reise, die er nun antreten werde, würde ihm helfen herauszufinden, was das in seinem Fall war.
Liv hatte angenommen, dass Samuel
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