Sanft wie der Abendwind
ich mich überhaupt gegen diesen absurden Vorwurf?“
„Das frage ich mich auch.“ Natalie lächelte breit.
Spielerisch zog Sebastian sie an den Haaren. „Beschäftige dich mit deinen Lehrbüchern, Kindchen, und überlass die Psychoanalyse den Fachleuten. Mit deiner Vermutung schießt du weit übers Ziel hinaus.“
„Gehst du zu dir nach Hause, bevor Lily zurückkommt?“
„Darauf kannst du wetten!“, erwiderte Sebastian. „Ich habe für heute genug von ihr.“
„Ach, tu mir doch noch einen Gefallen!“ Sie reichte ihm einen Zettel. „Siehst du bitte nach, ob das Buch in der Bibliothek steht? Dad meinte, wir könnten ein Exemplar haben.“
„Ja, gern.“
Sebastian ging ins Haus zurück und merkte in der Diele, dass die Tür zur Bibliothek halb offen stand. Geräuschlos öffnete er sie ganz und sah in den Raum. Das Licht der tief stehenden Sonne fiel durch die hohen Fenster wie ein Scheinwerferstrahl auf Lily, die vor einem geöffneten Schrank kniete.
Einen Moment lang beobachtete Sebastian sie. Mehrere Alben lagen neben ihr, was darauf schließen ließ, dass sie schon seit einiger Zeit hier war.
„Soviel ich weiß, interessieren sich nicht einmal so intelligente Hunde wie Katie für Familienfotos“, sagte er schließlich, um sich bemerkbar zu machen.
Lily fuhr hoch, und das Buch glitt ihr aus den Händen. „Du hast mich erschreckt!“
„Das sieht man. Was genau machst du hier?“
„Ich sehe mir Alben an“, erklärte sie unbefangen. „Hugo hat Fotos, die vor hundertfünfzig Jahren aufgenommen wurden. Es gibt welche von meinem Ururgroßvater, als der ein kleiner Junge war. Und sieh mal!“ Sie blätterte in den Alben.
„Hier ist eins von meiner Urgroßmutter, als sie ungefähr in meinem Alter war. Wir sehen uns ähnlich.“
Er ließ sich nicht besänftigen. „Du hast Natalie gesagt, du würdest mit dem Hund spazieren gehen.“
„Das habe ich auch versucht, aber Katie wollte ständig in den Fluss springen, und weil ich nicht wusste, ob sie ins Wasser darf oder nicht, bin ich vorzeitig zurückgekommen.“
„Um hier herumzuschnüffeln und dich mit allem zu bedienen, was dir in den Sinn kommt. Das Privateigentum anderer Leute zu inspizieren ist anscheinend deine Spezialität.“
„Hugo hat mir erlaubt, die Familienalben jederzeit anzusehen. Was glaubst du, wieso ich wusste, wo ich sie finde? Und ausgerechnet du musst mir Vorwürfe wegen Geheimnistuerei machen! Du hast auch nicht offen zugegeben, dass du deine schwangere Geliebte in deinem Haus in Toronto untergebracht hast und deine Familie es deswegen nicht zu sehen bekommt.“
Es kam nicht oft vor, dass Sebastian um Worte verlegen war, doch diese Breitseite machte ihn vorübergehend sprachlos, obwohl sie weit am Ziel vorbeiging. „Meine Geliebte?“, wiederholte er schließlich mühsam beherrscht.
„Deine schwangere Geliebte! Lass diese Tatsache nicht einfach unter den Tisch fallen.“
Es fiel ihm schwer, eine ausdruckslose Miene zu bewahren. „Ach, befasst du dich manchmal sogar mit Tatsachen, wenn du nicht gerade damit beschäftigt bist, völlig absurde Schlüsse zu ziehen?“
„Ja, spotte du nur!“, erwiderte Lily scharf. „Ich weiß doch, was ich gesehen habe: Küsse und Umarmungen! Dann musste ich endlos lang im Auto sitzen und Däumchen drehen, während ihr beide …“ Plötzlich verstummte sie verunsichert.
„Nein, Lily, nicht aufhören!“, bat Sebastian spöttisch. „Ich kann es kaum erwarten, das Ende der Geschichte zu hören.“
„Ihr seid in den ersten Stock gegangen.“ Sie betrachtete konzentriert ihre Finger, statt seinem Blick zu begegnen. „Dann wurde in einem Zimmer das Licht angeknipst.“
„Wie schade, dass ich keine Leiter auf dem Autodach festgebunden hatte. Die hättest du benutzen können, um einen besseren Blick auf die Vorgänge zu werfen. Und dann hättest du mich erpressen können.“
Nun sah sie doch auf und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Du brauchst nicht sarkastisch zu werden! Vermutlich ist die Frau verheiratet, deshalb darf niemand von eurer Beziehung wissen. Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei mir sicher.“
„Das will ich hoffen“, erwiderte Sebastian und sagte sich, dass er das Spielchen weit genug getrieben hatte. „Die Frau ist tatsächlich verheiratet, aber weder meine Geliebte noch die Mutter meines ungeborenen Kindes. Sie ist die Klientin eines Kollegen und versteckt sich zurzeit vor ihrem gewalttätigen Ehemann, der sie bedroht und sogar versucht hat, ihren
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