Sanft will ich dich töten: Thriller (German Edition)
den kalten Holzfußboden.
»Ich dachte, das sollten Sie wissen.«
»Richtig, Dorie. Danke.« Er steckte das Mobilteil hastig zurück in die Basis, ging in das kleine Bad neben seinem Schlafzimmer und drehte in der Dusche das heiße Wasser auf. Als er seine Boxershorts ausgezogen und sich die Zähne geputzt hatte, war das Wasser heiß genug, und er sprang rasch unter die Dusche. Zehn Minuten später hatte er sich rasiert und angezogen und lief die Lofttreppe von seinem Schlafzimmer hinunter.
Das Feuer im Holzofen war fast niedergebrannt. Er legte keine Scheite nach – niemand konnte sagen, wann er zurück sein würde, und die Heizung würde ausreichen, damit die Wohnung nicht auskühlte. Auf dem Tisch standen noch die Essensreste vom Vorabend – die Kruste einer Tiefkühlpizza und zwei leere Bierdosen –, doch er hatte keine Zeit mehr zum Aufräumen.
An der Hintertür des kleinen Holzhäuschens schob er die Glock ins Halfter, zog seine Jacke an, setzte den Hut auf und schloss die Tür zur Garage auf, wo er im Gehen seine Handschuhe überstreifte und den ersten Biss der Morgenkälte spürte. Er hatte am Abend zuvor den Wetterbericht gehört. Keine Veränderung. Keine Anzeichen dafür, dass die Kälte nachließ. Schnee, Schnee und nochmals Schnee wurde vorhergesagt, und die Meteorologen redeten munter von sinkenden Temperaturen, so kalt, dass die Fälle und der Fluss womöglich einfrieren würden.
Schlechte Nachrichten.
Er stieg in seinen Chevrolet Blazer und dachte mit finsterem Gesicht wieder einmal an das letzte Mal, als die Fälle gefroren waren. Damals war er sechzehn gewesen. Sechzehn Jahre alt und ein halbwüchsiger Idiot.
Er biss die Zähne zusammen und setzte rückwärts aus der Garage. Die Reifen knirschten auf dem frisch gefallenen Schnee, die Windschutzscheibe beschlug. Vor seinem inneren Auge sah er sich vor dem Pious Fall stehen, dessen herabstürzende Wassermassen zu dicken, eisigen Flächen erstarrt waren.
»Wagen wir’s«, hatte sein bester Freund, David Landis, eifrig gesagt. Davids Gesicht war rot vor Kälte, seine Augen strahlten vor Begeisterung, als er von dem zugefrorenen Fluss, auf dem sie standen, zu dem Felsen hinaufblickte, zu der Stelle, von der aus das Wasser im freien Fall zu Eis erstarrt war.
David und Shane waren seit dem ersten Schultag beste Freunde.
»Lieber nicht.«
»Warum nicht?« David hatte bereits seine Steigeisen angelegt, den Eispickel in den Gürtel gehakt und Seile, Geschirr und Karabinerhaken an seiner Jacke befestigt. »Das wird ein Spaß.« Er warf einen belustigten Blick über die Schulter zurück »Sag jetzt nicht, dass du Angst hast. Shane Carter, Ski-Ass und Extrembergsteiger, und was noch? Oberfeigling? Das größte Weichei aller Zeiten?«
»Ich finde, das ist einfach keine gute Idee.« Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, kreischte der Wind durch die Schlucht und rüttelte an den morschen Ästen der Bäume in der Umgebung. Alles war dick mit Eis überzogen und glitzerte klar und hart wie Glas.
David ließ sich nicht abschrecken. Furchtlos wie immer rückte er seine Skimütze zurecht. »Du hast doch immer was einzuwenden«, versetzte er herausfordernd. Sein Atem erzeugte Dampfwolken in der eisigen Luft. »Ich sag dir, Mann, das ist die Chance unseres Lebens. Wann wird es je so kalt, dass die Fälle gefrieren? Morgen schon wimmelt es hier und an den Multnomah-Fällen von Bergsteigern. Heute sind wir allein.« Er zog den Riemen seines Helms straff und setzte die Skibrille auf. Noch einmal blickte er zu den Eissäulen auf, die bis zur Felsspitze hoch über ihnen aufragten, so hoch, dass sie in den tief hängenden Wolken verschwanden. »Ich gehe, Carter, ob mit dir oder ohne dich. Also entscheide dich …«
Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, spähte Carter mit zusammengekniffenen Augen durch die Frontscheibe, während die Scheibenwischer den Schnee vom vereisten Glas schabten. Der Chevrolet Blazer schlitterte, der Motor heulte immer wieder auf, wenn die Reifen durchzudrehen drohten, bis er den Highway erreicht hatte, wo die Fahrbahn geräumt und gestreut war, doch schon legte sich wieder Neuschnee über die alten verharschten Wälle, die zu beiden Seiten aufgehäuft waren.
Wo war Sonja Hatchell?
Er befürchtete das Schlimmste. Die Straße vom Imbiss bis zum Haus der Hatchells schlängelte sich ins Vorgebirge hinauf und führte über drei oder vier Brücken über schnell fließenden Flüsschen hinweg. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher