Sanft will ich dich töten: Thriller (German Edition)
einmal anzurufen. Manchmal bedrängte er sie so. Doch was er gesagt hatte, ließ ihr keine Ruhe. Du hast Angst vor deiner Mom. Du gibst ihr solche Macht über dich. Das ist eigentlich gar nicht ihr Problem. Sondern deins. Er hielt sie also für schwach. Nein, darauf ließ sie sich nicht ein. Er wollte sie nur dazu bringen, zu tun, was er wollte. Er war derjenige, der Macht über Cassie ausüben wollte. Nicht ihre Mutter. Sie kroch unter der Bettdecke hervor und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher ein. Für die meisten Unterhaltungssendungen war es schon zu spät, aber es lief noch ein Film, einer, den sie versäumt hatte, als er in die Kinos kam, weil sie zu der Zeit mitten im Umzug von Kalifornien nach Oregon steckten. Junge, Junge, war das ein Fehler gewesen.
Aus dem Zimmer nebenan hörte sie Gelächter. Allie und ihre Freundin waren völlig aus dem Häuschen über das Schulfrei. Sie waren eine Weile draußen gewesen und hatten versucht, einen Iglu zu bauen. Weil es dafür zu kalt war, gingen sie zu den beheizten Ställen, um nach den Pferden zu sehen, die alle wohlauf waren, und dann waren sie ins Haus gekommen, um heiße Schokolade zu trinken und Popcorn zu essen und … Cassie schluchzte leise. Sogar Allie hatte eine gute Freundin. Jenna hatte die Leute vom Theater, auch wenn einige von denen ausgesprochen merkwürdig waren. Aber sie selbst hatte das Gefühl, seit ihrem Einzug auf der Ranch noch keinem Menschen näher gekommen zu sein.
Nur Josh.
Und selbst ihm traute sie nicht völlig; seine Motive dafür, dass er mit ihr ging, waren nicht ganz sauber.
Aber er ist alles, was du hast.
Sie erwog, ihre alten Freundinnen in L. A. und Santa Monica anzurufen, aber es war schon spät, und danach würde sie sich nur noch schlechter fühlen. Außerdem war das letzte Gespräch mit Paige so peinlich gewesen. Paige hatte kaum etwas erzählt, sondern Cassie schon nach kurzer Zeit abgewimmelt unter dem Vorwand, sie habe viel zu tun. Und Cassie konnte es ihr nicht mal verübeln. Im umgekehrten Fall hätte sie sich genauso verhalten.
Die Tränen wollten ihr in die Augen steigen. Auf den Film konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie wechselte zu einem anderen Sender und sah ihre Mutter. »Verdammt!« Da war Jenna Hughes, nicht einmal so alt, wie Cassie jetzt war, und spielte eine halbwüchsige Prostituierte in Innocence Lost . Wütend drückte Cassie die Power-Taste auf der Fernbedienung, und das Bild verschwand. Anscheinend konnte sie sich ihrer Mutter einfach nicht entziehen. Nicht einmal in ihrem Zimmer, wo sie Trost suchte. Sie spürte eine Träne im Augenwinkel und wischte sie wütend ab. Was war los mit ihr? Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast ein Uhr … und im Haus war alles still. Sie schlich auf den Flur hinaus und spähte in Allies Zimmer. Beide Mädchen lagen in Schlafsäcken auf Luftmatratzen auf dem Boden und schliefen tief und fest. Sie huschte zur Treppe und blickte hinab auf den Absatz, wo sich Jennas Zimmer befand. Die Tür war geschlossen, kein Lichtschimmer drang durch die Ritze.
Alle schliefen.
Wieder in ihrem Zimmer angekommen schaltete Cassie ihr Handy ein.
Eine SMS war eingegangen. Sie lautete: Ich liebe dich.
Jetzt musste sie wirklich weinen. Josh war der einzige Mensch in dieser gottverlassenen Stadt, der sie überhaupt zur Kenntnis nahm, dem etwas an ihr lag. Sie drängte die Tränen zurück und tippte rasch eine Antwort.
Bin in 20 Min am Tor. Liebe dich auch.
»Ich geh gleich«, verkündete Sonja, nahm ihre Schürze ab und warf sie in den Wäschekorb im Hinterzimmer. Aus den Lautsprechern dröhnte Country-Western-Musik.
Lou, der Koch, knurrte zustimmend und kratzte den Grill ab. Außer ihnen beiden hielt sich nur noch der Kellnerlehrling im Hinterzimmer des Imbisslokals auf, ein nichtsnutziger, träger Bursche mit stets verdrießlicher Miene, immer high von irgendeiner unbekannten Substanz. Er trug Kopfhörer, hörte Gott weiß was für Musik und nörgelte wie üblich über die Musikauswahl, die sein Onkel Lou getroffen hatte. Jetzt schaffte er es sogar, den Kopf zu heben und Sonja einen demonstrativ gleichgültigen Blick zuzuwerfen, während er ohne sichtbaren Erfolg den Fliesenboden mit dem Mopp bearbeitete.
An diesem Abend kümmerte es sie nicht. Sie wollte nur noch nach Hause zu ihrem Mann und ihren drei Kindern. Der letzte Gast war vor fünfzehn Minuten gegangen – Sonja hätte ihn schon am liebsten von seinem Barhocker gezerrt und eigenhändig
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