Sanft will ich dich töten: Thriller (German Edition)
rausgeschmissen. Wer trieb sich in einer solchen Nacht draußen herum, der nicht völlig den Verstand verloren hatte?
Nur die Stammgäste von Lou’s Imbiss , sagte sie sich nicht zum ersten Mal und nahm sich fest vor, sich einen besseren Job zu suchen.
Sie zog ihre Skijacke an, eine Wollmütze sowie Handschuhe und griff nach ihrem abgewetzten Rucksack.
»Bis morgen – sofern die Straßen passierbar sind«, sagte sie, was Lou dem Schweiger ein neuerliches Knurren entlockte. Lou der Schweiger war jedoch wohl erträglicher als Lou das Plappermaul oder Lou der Allwissende. Oder Lou der Lüsterne, überlegte sie, während sie in ihrer Handtasche kramte, ihre Schlüssel fand und sich gegen die Kälte wappnete, die ihr draußen entgegenschlug. »Verdammte Eiszeit«, fluchte sie leise.
Der Wind peitschte ihr heftig entgegen, biss in ihre bloßen Wangen und trieb ihr Schneeflocken aus harten kleinen Eiskristallen ins Gesicht.
Wie hatte sie sich nur von Lester Hatchell überreden lassen können, von Palm Desert hierher zu ziehen? Palm Desert, verdammt noch mal, wo in dieser Nacht sicherlich zwanzig Grad herrschten, und zwar über null. Ganz im Gegensatz zu dieser gottverlassenen Gegend am Ufer des Columbia River. Schöne Landschaft? Ja. Auch im Winter. Ein Ort, wo man leben konnte? Zum Teufel, nein! Jedenfalls nicht im tiefsten Winter. Lieber Gott, bitte gib mir täglich Palmen, heißen Sand, eine Piña Colada. Nein, lieber einen ganzen Eimer voll Piña Colada! Das ist tausend Mal besser als Tannen, Schneewehen und Rumgrog, verdammt! Winter-Wunderwelt, dass ich nicht lache!
Der eisige Wind drang durch ihre dicke Jacke, und selbst die Weihnachtsbeleuchtung an den Giebeln des Imbisslokals wirkte schwach und erbärmlich. Warum hatte sie sich bloß von Lester beschwatzen lassen, in diese grauenhafte Stadt zu ziehen, in der man sich den Arsch abfror? Warum?
Herrgott, was für eine Nacht!
Sie stapfte über den Parkplatz zu ihrem Kleinwagen, einem mit Eis überzogenen Honda mit Allradantrieb. Selbst das Schloss, das sie vorsorglich mit Pappe isoliert hatte, war eingefroren.
Zum Glück besaß sie einen batteriebetriebenen Türschlossenteiser; sie schob den Stab ins Schloss und lächelte weniger als eine halbe Minute später zufrieden, als die Tür sich öffnen ließ. Sie freute sich darauf, heimzukommen zu dem unablässig schnarchenden Lester und den Kindern, die kreuz und quer in ihren Etagenbettchen schliefen. Sie hatte schon den ganzen Abend lang ein schlechtes Gefühl gehabt, so eine Ahnung, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Intensität dieser Kaltfront erschien ihr unnatürlich, und die Gespräche, die sie während der letzten paar Tage im Imbisslokal aufgeschnappt hatte, beinhalteten allesamt die Feststellung, dass dieser Winter der kälteste seit mehr als hundert Jahren war.
Toll! Das fehlt uns gerade noch , dachte sie. Die Kinder in der Gegend waren schon völlig aus dem Häuschen, weil sie wahrscheinlich tagelang nicht zur Schule zu gehen brauchten. Ihr Junge, Cliff, hatte Luftsprünge gemacht vor Freude, als sie gegen fünf Uhr zu ihrer Schicht aufgebrochen war.
Völlig durchgefroren trotz der warmen Jacke stieg sie in ihren Wagen, schloss die Tür, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn.
Nichts geschah.
»O nein«, flüsterte sie und versuchte es noch einmal. »Tu mir das nicht an.«
Nichts. Nicht mal ein Klicken.
Sie trat aufs Gas. Eine leise Angst beschlich sie – die gleiche düstere Vorahnung, die sie schon früher gehabt hatte.
Aber das war doch lächerlich.
»Mach schon, mach schon.« Sie versuchte es wieder und wieder. Die Windschutzscheibe war zugeschneit, sodass sie nichts sehen konnte, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie auf den Abschleppdienst würde warten müssen. Sie konnte Lester anrufen, aber er würde die Kinder allein lassen oder den achtjährigen Cliff warm anziehen müssen, um sie abzuholen … Vielleicht würde Lou sie nach Hause fahren. Sie versuchte ein letztes Mal, den Motor zu starten, dann gab sie auf. Es war sinnlos. Der Wagen sprang nicht an.
Perfekt , dachte sie sarkastisch, stieß die Tür auf und stieg aus.
Dann sah sie ihn.
Er kam zielstrebig auf sie zu.
Im ersten Moment hatte sie Angst, doch dann erkannte sie ihn an seinem Körperbau und seinem Gang. Er kam häufig in den Imbiss. Als er näher kam, sah sie trotz des trüben Lichts das Blau seiner Augen unter der Skimütze und sein Lächeln. Ein bekanntes Gesicht! Einer der Stammkunden.
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