Sanfte Eroberung
Fach hinten in dem kleinen Einspänner, da weder ein Diener noch der Butler kam, um ihr zu helfen. Sicher waren noch alle mit dem Aufräumen drinnen beschäftigt.
Das Brautpaar war inzwischen abgereist. Roslyn wollte nicht, dass Arabella und Marcus von dem Überfall erfuhren, die sonst womöglich ihre Hochzeitsreise verschoben hätten.
Lily blickte zu Tess auf und sagte lächelnd: »Vielen Dank, dass ich die Nacht bei dir verbringen durfte und du mich hergefahren hast,
»Du weißt, dass du mir jederzeit willkommen bist«, erwiderte Tess freundlich und nahm ihre Zügel in die Hand. »Ich komme bald zurück, um mich nach Roslyn zu erkundigen. Was immer Winifred auch sagt, es muss ein furchtbares Erlebnis für sie gewesen sein.«
»Gut, ich werde ihr ausrichten, dass wir dich zum Lunch erwarten. «
Tess wollte ihr Pferd gerade antreiben, als sie in der Ferne eine Kutsche hörten. Gleich darauf sah Lily einen zweispännigen Wagen, der den Kiesweg hinaufkam, gelenkt von einem einzelnen Gentleman in modernem Gehrock und einem großen Kastorhut.
Ihr Herz geriet aus dem Takt, als sie die breiten Schultern erkannte, und sie hauchte: »Was zum Teufel tut er hier? «
»Das ist Lord Claybourne, nicht wahr?«, fragte Tess.
»Leider ja.«
Seine Lordschaft war der allerletzte Mensch, den sie jetzt sehen wollte, dachte Lily, die ihr Pech verfluchte. Wäre sie doch fünf Minuten früher gekommen, dann hätte sie sich vom Butler verleugnen lassen können! Aber nun musste sie Lord Claybourne gegenübertreten, obwohl sie noch von der Erinnerung an seine Küsse gequält wurde. Auf keinen Fall durfte sie mit ihm allein sein!
»Kannst du bitte noch einen Moment bleiben, Tess? Lass mich nicht mit ihm allein! «
Ihre Freundin sah sie verwundert an. »Willst du ihn nicht sehen? «
Ihr blieb keine Zeit mehr, um zu antworten, denn der Marquess lenkte seinen Wagen bereits gekonnt neben Lily und hielt ihn an.
Sie atmete tief ein, bevor sie ihn ansah. Heute Morgen war sie mehr sie selbst und bei klarem Verstand. Nun ja, zumindest war sie nüchtern. Und solange sich in ihrem Kopf nicht alles drehte, konnte sie ihm ungleich leichter widerstehen.
Ließ man außer Acht, dass Lord Claybourne im kalten Tageslicht genauso umwerfend aussah wie im dämmrigen Laternenschein letzte Nacht. Und bei seinem Lächeln schmolz sie heute nicht minder dahin als gestern. Er verneigte sich. »Guten Morgen, meine Damen.«
Lily ignorierte ihren Bauch, der sich merkwürdig gebärdete, konnte jedoch nichts gegen ihre Atemlosigkeit tun. »Was führt Sie her, My Lord? «
»Ich statte Ihnen einen Höflichkeitsbesuch ab,
»Sie kommen den ganzen Weg von London, um mir einen Höflichkeitsbesuch abzustatten?«
Er zuckte lässig mit den Schultern. »Mit einem schnellen Gespann dauert es kaum mehr als eine halbe Stunde. Und diese beiden Schönheiten«, er zeigte auf die beiden Grauschimmel vor ihm, »sind blitzschnell.«
Das Gespann war wirklich ausgesprochen schön, stellte Lily bewundernd fest. Die beiden Pferde wirkten lebhaft und waren gut genug trainiert, um geduldig dazustehen und auf die Befehle ihres Herrn zu warten.
Was dennoch nicht erklärte, warum Claybourne glaubte, sie besuchen zu müssen. »Sie haben sich trotzdem zu viel der Mühe gemacht, My Lord.«
»Das war keine Mühe. Ich habe Ihnen einen Korb von meinem Koch mitgebracht. «
Sie sah ihn verständnislos an. »Von Ihrem Koch? «
»Ein paar Köstlichkeiten für Boots und ein Mittel gegen Ihre Kopfschmerzen. Ich denke mir, nach gestern Abend fühlt er sich an, als habe sich darin ein Trommler eingerichtet. «
Natürlich war Lily von seiner Fürsorge beeindruckt, was sie ihn allerdings nicht wissen ließ.
»Ich vermute, Sie sprechen aus Erfahrung«, gab sie stattdessen zurück.
»Selbstverständlich. «
Mit einem Grinsen, bei dem Lily weiche Knie bekam, hielt er den Korb in die Höhe. Um ihn zu nehmen, musste Lily ihren Koffer abstellen, was sie ungern tat.
»Sie sind zu freundlich«, sagte sie angestrengt höflich und nahm den Korb entgegen. »Boots wird Ihre Großzügigkeit sehr zu schätzen wissen. Doch Sie hätten nicht eigens die Fahrt unternehmen müssen, My Lord, und erst recht sollten Sie mir keine Geschenke bringen. «
»Warum nicht, Miss Loring?«
Lilys Verärgerung wuchs, denn Lord Claybourne gab sich willentlich ahnungslos. Immerhin hatte sie ihn gestern schon vor Winifreds Ehestiftungsplänen gewarnt. »Sie kennen den Grund sehr wohl. Oder haben Sie kein Wort von dem
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