Sanfter Mond über Usambara
Ettje war nicht dumm und ihr Mann Peter Hansen noch weniger. Eine große Familie war ein sicherer Hort und zugleich eine tückische Falle, das hatte Charlotte bei ihrer Rückkehr nach Deutschland am eigenen Leibe erfahren. Sosehr sie bedauerte, Ettje und die Großmutter nicht sehen zu können, so froh war sie doch, wieder hier in Afrika zu leben.
Sie stieß auf zwei Briefe, die an George gerichtet waren, einer kam aus Ägypten, der andere aus Berlin. Dann runzelte sie die Stirn– diese Handschrift kannte sie inzwischen gut: Kamal Singh hatte ihr schon mehrfach geschrieben, seitdem sie in Daressalam wohnten– wie er ihren Aufenthaltsort herausbekommen hatte, blieb sein Geheimnis. Da er sich nach Schammi erkundigte, hatte sie ihm geantwortet, und so entspann sich ein Briefwechsel, der von ihrer Seite nur der Höflichkeit halber geführt wurde. Kamal Singhs Briefe kamen mit schöner Regelmäßigkeit ins Haus, sie waren unverändert freundschaftlich, jedoch in einigen Punkten recht merkwürdig.
» Er wird alt und macht sich Gedanken um sein Weiterleben nach dem Tode « , hatte George schulterzuckend befunden.
Er mochte den Inder nicht besonders, obgleich Kamal Singh ihm selbst niemals Schwierigkeiten bereitet hatte. Charlotte hatte die abwegige Vermutung geäußert, Kamal Singh habe gewusst, dass George in der Klinik für Einheimische lag und sie nicht nur Schammis wegen nach Daressalam gelockt, sondern auch, damit sie ihren Mann dort wiederfand. George hatte sich sehr darüber amüsiert und sie eine spitzfindige Denkerin genannt. Kamal Singh sei zwar schwer zu durchschauen, ein solches Revolverstückchen traue er ihm jedoch nicht zu.
Einmal hatte der Inder angefragt, ob Charlotte eines seiner Geschäfte in Daressalam übernehmen wolle, er wisse sicher, dass sie die richtige Person dafür sei. Das Angebot hatte sie tagelang beschäftigt, zumal George sie erstaunlicherweise dazu ermutigte, doch letztendlich hatte sie Kamal Singh eine Absage erteilt. Ihr war es unangenehm, dass er ständig auf ihre alte Freundschaft zu sprechen kam und sie immer wieder einlud, ihm in Tanga einen Besuch abzustatten. Mit unguten Gefühlen erinnerte sie sich an den feindseligen Blick jenes jungen Mannes, dem sie in Kamal Singhs Haus begegnet war. Nach wie vor ging sie davon aus, dass es sich um einen seiner Söhne oder Schwiegersöhne handelte, denn es war gut möglich, dass Kamal Singhs Familie seine beharrliche Freundschaft zu Charlotte Johanssen mit Misstrauen verfolgte.
Mit einem Seufzer riss sie den Umschlag auf und entfaltete das Schreiben, das wie immer auf feinstem Papier verfasst war und die eingepresste Form eines Lotosblattes trug.
Meine liebe Freundin,
es ist eine seltsame Sache mit dem Kreislauf alles Lebendigen, denn er wird nicht von uns bestimmt, sondern von dem selbst erleuchteten, einigen Gott. Er wirft uns sündige Menschen zurück in die Unvollkommenheit, ohne Erinnerung an Vergangenes, ohne Hoffnung auf Zukünftiges, bis wir eines fernen Tages über alle Irrtümer und Leidenschaften erhaben sind und Erlösung finden.
Aber ich will Sie nicht mit dem Gejammer eines alten Mannes langweilen. Ich freue mich, dass Sie eine neue Leidenschaft, das Photographieren, entdeckt haben und verstehe, dass Ihr Leben mit Musik, Liebe und der Fürsorge für Ihre Tochter bis zum Rand gefüllt ist. Es ist schade, dass Sie keine Zeit fanden, mich in meinem Haus in Tanga aufzusuchen, denn nun ist es zu spät.
Wenn Sie diesen Brief lesen, werde ich nicht mehr in Afrika sein. Das Meer, das ich so oft durch meine Fenster betrachtet habe, trägt mich nach Osten jenem Ort zu, an den mich meine Erinnerung bindet. Vierzig Jahre harter Arbeit haben diese Erinnerung nicht auslöschen können, nun aber werde ich sie mit meinen Händen berühren, damit sie vergeht wie ein Gebilde aus Staub, das der Wind davonträgt.
Leben Sie wohl, Charlotte. Dass sich unsere Lebenswege kreuzten, war mir lange Zeit das größte Rätsel, vor das mich der einige Gott gestellt hat. Nun werde ich auch diese Klammer lösen, um meine Seele unbelastet von Liebe und Hass zu bewahren. Meine guten Wünsche aber sollen Sie weiterhin begleiten.
Ihr Freund Kamal Singh
Charlotte las den letzten Absatz zweimal und konnte trotzdem nichts damit anfangen. Überhaupt war dieser Brief ziemlich rätselhaft– klar war nur, dass Kamal Singh nach Indien abgereist war. In seine Heimat– was sollte daran so seltsam sein?
Die Tür zur Dunkelkammer wurde geöffnet, und sie hörte
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