Sanfter Mond über Usambara
Gewirrs aus Seen und Kanälen, Fabrikschloten und Hebekränen, suchte sich die Ems ihren Weg durch den flachen Dollart in die Nordsee. Dampfer und Frachtkähne konnten ihrem Lauf folgen und auch die Möwen, diese kühnen, freien Segler der Lüfte. Charlotte konnte es nicht, nicht einmal mit den Blicken.
Es war ganz sicher der Herbst, der ihr aufs Gemüt schlug. Ein heftiger Wind blies hier am Hafenbecken ungehindert in die Stadt hinein, bauschte Mantel und Kleid und zwang Charlotte, ihren Hut festzuhalten. Als sie jetzt eilig zur Rathausseite hinüberlief, kam ihr ein Junge entgegen, der eine zweirädrige Karre vor sich herschob. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen sein Gefährt und hatte die Mütze so tief ins Gesicht gezogen, dass seine Augen kaum zu sehen waren. Sie war froh, als sie die schützenden Häuserreihen erreicht hatte, schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch und besah die Auslagen der Geschäfte. Es gab wundervolle Läden in Emden, man konnte englische Stoffe und spanischen Wein erwerben, die neuesten Bücher und Journale, Leckereien aus aller Herren Länder und dazu allerlei hübschen Krimskrams wie Lampen mit Perlenschnüren, bemalte Tabaksdosen, zierliches Teegeschirr oder Nippesfigürchen aus Porzellan. Wie merkwürdig, dass ihr beim Anblick der alten, großen Patrizierhäuser nicht selten lang verschüttete Erinnerungen durch den Kopf schossen.– Ihre Mutter, zart und dunkelhaarig, frierend in den Mantel gekuschelt– hatte sie mit ihr vor ebendiesem Geschäft gestanden, durch ebendieses Schaufenster neugierig auf rosenbemalte Teller und bunte Porzellanengelchen gestarrt? So rasch dieses Bild vor ihrem Inneren auftauchte, so schnell war es auch wieder verschwunden.
Die Schwangerschaft, dachte sie lächelnd. Damals, als ich Elisabeth in mir trug, fielen mir auch so viele Dinge aus meiner Kindheit wieder ein.
Vielleicht sollte sie diesen rosigen Engel aus bemaltem Wachs kaufen? Ach nein, George würde sie doch nur auslachen. Vermutlich wartete er in dem hübschen Haus in der Osterstraße schon ungeduldig auf sie, wie er es immer tat, wenn sie allzu lange in der Stadt herumlief und mit Einkäufen beladen zurückkehrte. Sie sollte nicht so schwer tragen, nur kurze Spaziergänge unternehmen, sich nach dem Mittagessen hinlegen, ein wenig lesen, Briefe schreiben oder auf dem Klavier spielen, das er für sie gekauft hatte. Gut– die Schwangerschaft war nicht ohne Probleme, sie hatte Schmerzen und sogar kleinere Blutungen gehabt, doch das war jetzt vorüber, sie war schon im vierten Monat und fühlte sich gesund. Dass sie noch einmal ein Kind empfangen hatte– sie war immerhin schon sechsunddreißig Jahre alt–, empfand Charlotte als ein großes Geschenk. Dieses Kind war die Erfüllung ihrer Liebe, mehr noch: Es war ein Triumph. George, der Sohn und Tochter in London nicht sehen durfte, würde wieder Vater werden, und dieses Mal sollte nichts und niemand ihn von seinem Kind trennen. Was Marie ihm angetan hatte, würde sie, Charlotte, wiedergutmachen.
Eine Weile zögerte sie und überlegte, ob sie nicht wenigstens den Teewärmer aus wattiertem Stoff kaufen sollte, der ein traumhaft schönes Muster aus dunklen und lindgrünen Efeublättern hatte, dann jedoch sagte sie sich zum wohl hundertsten Mal, dass sie Georges Geld nicht so leichtfertig ausgeben sollte, auch wenn er ihr niemals deshalb Vorwürfe machte. Im Gegenteil, er hatte lächelnd verfolgt, wie sie das gemietete Haus mit allerlei hübschen Dingen anfüllte, und wenn sie gemeinsam in der Stadt unterwegs waren, verschwand er hie und da in einem Geschäft, um ein Buch, ein Schmuckstück oder einen Notenband für sie zu erwerben. Auch Elisabeth, die inzwischen eine Schule besuchte, wurde von ihm reich bedacht, eigentlich zu reich; man hätte auch sagen können, er verwöhnte das Mädchen nach Strich und Faden.
Als es von der großen Kirche Mittag läutete, trug der Wind die ersten feinen Regentröpfchen heran, und Charlotte beschloss, nun doch nach Hause zu gehen. Zwei Knaben in Schuluniform und mit roten Mützen liefen an ihr vorbei– heute war Mittwoch, da war nachmittags frei im Gymnasium, und auch Elisabeth, die erst die Volksschule besuchte, würde dort bald von ihrem Hausmädchen abgeholt werden. Die Kleine war stets übervoll mit Schulerlebnissen, wenn sie nach Hause kam, und Charlotte fand es wichtig, ihrer Tochter geduldig zuzuhören, um notfalls helfen oder maßregeln zu können. Elisabeth hatte sich zwar überraschend schnell mit
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