Sanfter Mond über Usambara
der neuen Situation abgefunden, doch sie war– wie erwartet– den Mitschülern weit voraus und langweilte sich im Unterricht, was dazu führte, dass sie allerlei Schabernack trieb. Weit problematischer erschien Charlotte allerdings, dass ihre Tochter einen Kreis ehrfürchtiger Freundinnen und Bewunderer um sich versammelt und dadurch den Neid einer ihrer Mitschülerinnen erweckt hatte. Es handelte sich um ein Mädchen namens Jule Böttcher, genannt Julchen, die Tochter eines wohlhabenden und einflussreichen Emdener Ratsherrn. Momentan herrschte Krieg im Klassenzimmer, die einen hielten zu Elisabeth von Roden, die anderen zu ihrer Gegenspielerin, die von Elisabeth nur als » blöde Angeberziege « bezeichnet wurde. Was im Einzelnen geschehen war, konnte Charlotte nicht immer aus Elisabeth herausbekommen, sicher war nur, dass das Mädchen verbissen um seine Position kämpfte.
» Du kannst ihr nicht helfen « , hatte George zu Charlottes Überraschung behauptet. » Sie muss lernen, wie weit sie gehen kann. Sobald sie ihre Kräfte gemessen haben, können sie und Jule Böttcher noch dicke Freundinnen werden. «
Charlotte wusste natürlich, dass George darauf bedacht war, jegliche Aufregung von ihr fernzuhalten, und die Lage deshalb herunterspielte. Nein, so einfach war das nicht. Elisabeth stand unter großer Anspannung und schlief unruhig. Vor einigen Wochen, ausgerechnet an ihrem siebten Geburtstag, hatte sie mit einer heftigen Angina und hohem Fieber im Bett liegen müssen. Wenn dieser Kleinkrieg in der Schule weiter anhielt, würde sie mit dem Lehrer sprechen müssen.
Nass und keuchend vom eiligen Lauf bog sie in die Osterstraße ein und hatte nun wenigstens den Vorteil, dass der Wind sie vor sich hertrieb. Das Haus, das sie gemietet hatten, war ein zweistöckiges Backsteingebäude mit rotem Ziegeldach und schmalen, hohen Fenstern, auf der Wiese im Vorgarten lag ein gewaltiger, verrosteter Anker. Ein Kapitän hatte das Anwesen vor Jahren erbauen lassen, jetzt gehörte es seinem Sohn, der das Elternhaus nicht verkaufen mochte und froh war, einen Mieter gefunden zu haben. Bei ihrem ersten Besuch in Emden hatte die Großmutter Charlotte auch das Gebäude gezeigt, in dem sie vor vielen Jahren mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder gelebt hatte. Es lag nicht weit von ihrem jetzigen Domizil entfernt und schaute recht ähnlich aus, doch seltsamerweise hatte Charlotte keine Erinnerung mehr daran.
Vor der weiß lackierten Eingangstür musste sie einen Moment verweilen und tief durchatmen, damit sich das Herzklopfen etwas legte. Als sie in den Flur trat, kam Stine, das Hausmädchen, aus der Küche gelaufen, knickste ungeschickt– wer hatte dem Mädchen nur solch einen Blödsinn beigebracht?– und verkündete, Elisabeth sei im Kinderzimmer, wolle aber niemanden sehen und auch nichts zu Mittag essen.
» Ist sie krank? «
Das Hausmädchen war ein junges Ding, stämmig und ein wenig ungelenk, die Tochter eines Heringsfischers, die ihre breiten, roten Hände gern hinter dem Rücken versteckte. Doch Stine war nicht dumm, und sie besaß ein natürliches Gespür für Mensch und Tier.
» Krank ist sie nicht, gnädige Frau. Eher ist ihr bannig was über die Leber gelaufen. Die Schultasche hat sie mir vor die Füße geschmissen, und nun sitzt sie auf ihrem Bett und heult. «
Charlotte zog seufzend die Hutnadeln heraus und reichte dem Hausmädchen den feuchten Mantel.
» Ist Post gekommen? «
» Die liegt beim gnädigen Herrn auf dem Schreibtisch. «
» Danke, Stine. Du kannst dann das Essen auftragen. «
Das Mädchen nickte, überlegte kurz, ob es nachfragen solle, unterließ es aber besser.
» Drei Gedecke « , ergänzte Charlotte, die Stines Unsicherheit richtig gedeutet hatte. » Ich rede mit ihr, sie wird schon kommen. «
Tatsächlich war durch die geschlossene Kinderzimmertür Elisabeths Schluchzen zu vernehmen. Charlottes Mutterherz zog sich zusammen. Sie hatte ihre Tochter aus dem Paradies gestoßen, sie aus dem freien Leben auf der Plantage am Kilimandscharo herausgerissen, ihr Hamuna, die liebevolle Kinderfrau, genommen. Es war kein Wunder, dass Elisabeth unglücklich war und sich selbst in Schwierigkeiten brachte…
» Charlotte? «
George war aus seinem Arbeitszimmer getreten. Er setzte die goldgeränderte Brille ab, die er seit einiger Zeit zum Lesen benötigte, und musterte Charlotte vorwurfsvoll, dann umfasste er ihre Schultern und berührte mit den Lippen vorsichtig ihre Wange. Seit Neuestem ließ er
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