Sanfter Mond über Usambara
Wellental empor. » Ich glaube nicht, dass sie etwas zu sich nehmen möchte, liebe Miss Marwin « , gab Charlotte zu bedenken.
Diese hatte sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit auf den Beinen gehalten, die beiden englischen Fräulein waren überhaupt viel sportlicher, als man vermutet hätte. » Aber deine Puppe ist gewiss hungrig, Elisabeth « , beharrte die Engländerin entschieden.
» Nein, Miss Marwin… « , murmelte die Kleine, die unter Georges Anleitung schon recht gut Englisch gelernt hatte.
» Aber natürlich, mein Kind. Ich sehe doch, wie blass sie ist! Sie stirbt vor Hunger. Meinst du, ich sollte sie mit in den Speisesaal nehmen? «
» Das ist Fräulein Mine, und sie möchte nichts essen… «
» Oh, ich glaube, sie hat mir eben zugeblinzelt, Elisabeth. Sie würde sehr gern mit uns gehen, sie traut sich nur nicht ohne ihre Puppenmama… «
Elisabeth verzog das Gesicht und schielte zu Fräulein Mine hinüber, die Charlotte unter der Zudecke eingeklemmt hatte, damit sie nicht aus dem Bett fiel.
» Na schön « , seufzte die Kleine. » Aber Fräulein Mine kann Ihnen gar nicht zugeblinzelt haben, Miss Marlow. Sie liegt doch auf dem Bauch. «
Der Geruch auf den Fluren war keineswegs dazu angetan, den Appetit auf das Mittagessen zu heben. Aber immerhin lief Elisabeth brav an Charlottes Hand und stolperte kein einziges Mal, da sie die Schiffsbewegungen intuitiv mit ihrem Körper ausglich. Ein Steward kam ihnen schwankend entgegen, ein Tablett mit heißem Kamillentee balancierend, und Miss Marwin erfuhr, dass man heute ausnahmsweise eine halbe Stunde später speisen würde.
» Das ist bedauerlich, aber eingedenk der Umstände durchaus akzeptabel… «
Der opulent ausgestattete Speisesaal der ersten Klasse hatte in der schweren See ziemlich gelitten. Künstliche Palmen waren aus den Töpfen gekippt, Stühle umgefallen, nur die auf Podesten festgeschraubten Tische mit den verrutschten Tischdecken befanden sich noch an Ort und Stelle. Ein Angestellter versuchte, die Scherben auf den Teppichen zusammenzukehren, musste sich bei dieser Arbeit jedoch immer wieder rasch an einer der schmalen bronzefarbenen Säulen festhalten, um nicht zu stürzen. Der einzige Gast, Miss Rose Marwin, thronte an seinem gewohnten Platz, hielt Teller und Essbesteck mit beiden Händen fest und lächelte ihnen aufmunternd entgegen. Sie war größer und fülliger als ihre Schwester und trug das Haar auf die gleiche Weise aufgesteckt, doch sie bevorzugte glitzernde Haarspangen, die mit Federn besetzt waren.
» Wie es scheint, sind wir die vier Aufrechten unter den Passagieren « , begrüßte sie Charlotte. » Nun, wir Briten sind eine Seefahrernation. Es wäre lächerlich, wegen eines kleinen Sturms eine Mahlzeit auszulassen. «
Charlotte widersprach nicht, obgleich Elisabeth Deutsche war und sie selbst die britische Staatsbürgerschaft allein durch ihre Heirat mit George erworben hatte. Aber immerhin konnte sie auf einen britischen Großvater in Bombay verweisen, auch wenn sie ihn niemals kennengelernt hatte.
» Wir sind fünf Aufrechte « , bemerkte Elisabeth. » Sie haben Fräulein Mine nicht mitgezählt… «
» Oh, ich bitte um Verzeihung– in der Tat, wir sind fünf an der Zahl. «
Ein Steward eilte herbei, um ihnen die Stühle zu richten, und Charlotte stellte erleichtert fest, dass Elisabeth sich ganz selbstverständlich an den Tisch setzte und nun sogar nach der Puppe griff, die Charlotte für sie getragen hatte.
» Es ist nett von dir, dass du Fräulein Mine zum Essen begleitest… «
Miss Rose Marwin zog die Brille heraus, um die Menükarte zu studieren, stellte jedoch enttäuscht fest, dass es sich um die gestrige Ausgabe handelte.
» Ich habe ja nur noch Fräulein Mine als Freundin. All meine anderen Freundinnen sind in Emden geblieben… «
» Ach, du armes Kind! «, klagte Miss Jane Marwin. » Du hast alle deine Freundinnen zurücklassen müssen. Das ist wirklich hart. «
» Ja, alle. « Elisabeth nickte und schielte vorsichtig zu Charlotte hinüber, unsicher, ob sie diese Interna preisgeben durfte. » Pauline Klopp und Minna Springemann und Thilda Baumfalk und Julchen Böttcher… «
» So viele Freundinnen hast du! «
» Noch viel mehr! Da sind außerdem… «
Es folgte eine lange Aufzählung, die die beiden englischen Fräulein mit großem Ernst anhörten und dazu nickten. Als bald darauf ein Kellner erschien, um ihre Wünsche entgegenzunehmen, bestellte Elisabeth Nudelsuppe. Für Fräulein Mine. Die
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