Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
geeint ist, und zwar nicht nur in einer Kooperation, sondern durch eine von den europäischen Nationen gebilligte Übertragung von Souveränität auf eine Art zentraler Union« – ein damals noch ganz unwahrscheinlich anmutendes Projekt.
Ein Jahr später gründete de Gaulle das Commissariat général du Plan und betraute mit seiner Leitung Monnet. Der betrachtete diese Aufgabe als une fonction indéfinissable . Er zögerte nicht, sie als Hebel zu nutzen, um seine weitreichenden Pläne voranzutreiben. (Nebenbei gesagt, verdankt man seiner Ernennung die sehr französische Bezeichnung Kommissar, die der Union bis heute so sehr ans Herz gewachsen ist.)
Alle Zeugen wissen von Monnets Charme und seiner Hellsicht, seiner Geschmeidigkeit und seiner Geduld ebenso zu berichten wie von der Hartnäckigkeit, mit der er unter einem Schleier von Bonhomie seine Ziele verfolgte. Stets hat er als ebenso diskreter wie einflußreicher Drahtzieher und Ohrenbläser der Mächtigen seiner Zeit agiert. Einer politischen Partei ist er nie beigetreten. Ganz im Gegensatz zu seinen Erben in der Europäischen Union fehlte ihm die Lust am Pyramidenbau von Stellenkegeln. »Wenn ich über einen administrativen Apparat verfügte«, teilt er mit, »so habe ich seine Dimensionen absichtlich begrenzt.« Er arbeitete lieber im Schatten und en petit comité .
Am 9. Mai 1950, genau fünf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, trat der französische Außenminister Robert Schuman am Quai d’Orsay mit einem sensationellen Plan vor die Presse, der seinen Namen zu Unrecht trägt, denn er stammt von Jean Monnet. »Wenn ihnen die Ideen fehlen«, sagte dieser in seiner trockenen Art, »akzeptieren die Männer, die an der Macht sind, die fremden, unter der Bedingung, daß man ihnen die Vaterschaft überläßt. Da sie das Risiko tragen, brauchen sie auch den Lorbeer. Bei meiner Arbeit muß man die Lorbeerkränze vergessen.«
Die »Europa-Idee« und die zahllosen Komitees und Bewegungen, die sie vortrugen, erwähnte der Minister, seinem Souffleur folgend, mit keinem Wort. Statt dessen schlug er vor, eine europäische Hohe Behörde zu gründen, die dazu bestimmt war, die Kohle- und Eisenmärkte zu verwalten. Zum ersten Präsidenten dieser Montanunion wurde Monnet gewählt, der nichts von den Annexionsplänen hielt, die manche seiner Landsleute hegten. Er dachte französisch, aber er war kein Nationalist. Er war Pragmatiker. Wie Churchill und de Gaulle zog er es vor, das deutsche Industriepotential einzubinden, nach dem Motto: Wenn du sie nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihnen. Die Position an der Spitze der Montanunion akzeptierte er, weil ihm nichts anderes übrigblieb; denn diese erste Keimzelle der Europäischen Union war seine eigene Kreatur. Als er sich von diesen Amt verabschiedete, sagte er: »Was jetzt für die Kohle und den Stahl der sechs Länder unserer Gemeinschaft auf dem besten Weg ist, muß bis zum endgültigen Ziel weiterverfolgt werden: die Vereinigten Staaten von Europa.«
Dennoch haben die meisten der ungefähr 270 Millionen Unionsbürger, die nach 1965 geboren sind, wahrscheinlich nie von diesem Mann gehört. Vielleicht hat das Verbleichen seines Namens mit dem zu tun, was man die »Methode Monnet« genannt hat. Gemeint ist damit sein sehr spezifisches Politikverständnis. Er bevorzugte, wie es heißt, »im Konsens getroffene Eliteentscheidungen«, bei denen Parlamente und Bürger kaum etwas mitzureden hatten. Von Volksbefragungen und Referenden hielt er nichts. Nicht nur aus diesem Grund sind seine Vorschläge nie populär gewesen. Die europäische Integration, die ihm vorschwebte, trug technokratische, interventionistische Züge.
Auf die höfliche Fiktion der Volkssouveränität legte er keinen Wert. Dafür wußte Monnet, im Gegensatz zu den Schwarmgeistern, die von ihr träumten, immer ganz genau, was er wollte. Er setzte bewußt auf ein langfristiges Projekt, das, einen Zwischenschritt nach dem andern, seiner internen Logik folgend, zu einerimmer mächtigeren Union führen sollte. »Dazu brauchte ich keine großen Mittel. Ein Büro, ein Telefon und eine Sekretärin würden mir genügen.«
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war für ihn nur ein erster Ansatz, um diesem Vorhaben eine ökonomische Basis zu sichern. In der Konsequenz ging es dabei um weit mehr, nämlich darum, den politischen Souveränitätskern der Nationalstaaten allmählich zugunsten transnationaler Instanzen auszuhöhlen.
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