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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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geben, der in den Schriften dieses Philologen aus der Zeit des Humanismus geblättert hat, schon deshalb nicht, weil sie im Latein der gelehrten Welt verfaßt sind.
    Stilistisch überraschen beide Häuser durch ihre bescheidenen Ansprüche. Das Consilium, erst 1995 vollendet, wirkt bereitsziemlich angegammelt, ebenso wie die Kunst, mit der es sich schmückt. Wer Prunk und Eleganz erwartet, muß sich auf eine Enttäuschung gefaßt machen. Sogar die Schreibtische der höchsten Chargen wirken eher öde – gar kein Vergleich mit dem Élysée-Palast! Selbst das Amtszimmer des Brüsseler Bürgermeisters stellt mit seinem goldenen Renaissanceschmuck alles in den Schatten, was die Europäische Union zu bieten hat.
    Weit interessanter als ihre karge Schauseite ist natürlich das Innenleben dieser Hauptquartiere. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse machte sich die Mühe, es zu studieren. Monatelang hat er sich in den langen Korridoren der Bürokratie, in Sitzungssälen und Arbeitszimmern herumgetrieben, um den Alltag zu beobachten, der dort herrscht. Wie es scheint, verfolgt er den Plan, einen Roman zu schreiben, zu dessen Hauptfigur er einen Beamten der Union auserkoren hat. Das ist ein heroisches Projekt, zu dem man ihm nur gratulieren kann; denn es bedeutet den Abschied von den narzißtischen Fingerübungen, mit denen so viele zeitgenössische Erzähler beschäftigt sind. Manchen wird das vorläufige Ergebnis seiner Recherchen überraschen. Er hat nämlich »im Beamtenapparat der Kommission bestens qualifizierte, europäisch denkende Menschen kennengelernt, die in verwunderlicher Effizienz eine hochkomplexe Maschine zur Produktion von Rationalität bedienen«.
    Das hört man gern. Und in der Tat kann man in diesem Biotop viele kenntnisreiche und engagierte Personen antreffen. Wie gewöhnlich findet man sie selten unter den höchsten Chargen; denn bei denen handelt es sich oft genug um Politiker, die aus ihrem Herkunftsland nach Brüssel abgeschoben worden sind, weil sie den Parteien, denen sie angehören, aus irgendwelchen Gründen lästig geworden sind; man sagt dann, sie seien »eine Treppe hinaufgefallen«. Im übrigen versteht es sich, daß die Spitzenpositionen nicht nach Eignung vergeben werden dürfen. Sie müssen nach Proporz-Gesichtspunkten ausgehandelt werden, damit keines der 27 Mitgliedsländer zu kurz kommt. Die Qualifikation istdabei sekundär. Daraus folgt, daß es an chronisch überforderten Kommissaren nie mangeln wird.
    Anders verhält es sich mit den Beamten aus der zweiten Reihe. Ein kompliziertes Ausschreibungsverfahren, das unter Hunderten von Bewerbern die Kompetentesten auswählt, sorgt dafür, daß ohne Sachkenntnis und Berufserfahrung kaum einer durchschlüpft. Es ist bedauerlich, daß es die meisten Ethnologen eher nach Papua-Neuguinea als nach Brüssel zieht; denn dort würde sich der Forschung ein besonders eigentümliches Feld eröffnen. Schon auf den ersten Blick fällt auf, daß sich, wer es bis in diese Sphären geschafft hat, als Teil einer übernationalen Elite versteht. Diese Beamten vertreten die Staatsraison eines Staates, den es gar nicht gibt. Über den Kirchturmshorizont der Mitgliedsländer erhaben, fühlen sie sich dazu berufen, ein übergeordnetes Gesamtinteresse wahrzunehmen. In ihrer Binnenwelt fehlt es nicht an Fleiß. Viele legen sogar einen gewissen Enthusiasmus an den Tag. Zumindest in den zentralen Bereichen ist die Sechzigstundenwoche eher die Regel als die Ausnahme. (Für die zahlreichen Exekutivagenturen und Nebendienste der Union, die, dem Proporz gehorchend, über ganz Europa verstreut vor sich hintrödeln, gilt das nicht unbedingt. In der Peripherie, fern von jeder Aufsicht, nimmt die Effizienz naturgemäß ab. Manche dieser Etablissements kann man getrost als Einrichtungen zur Beschaffung von Arbeitsplätzen betrachten.)
    Was die besten Kader der EU beflügelt, ist nicht ihre Eitelkeit. Kein Kabinettschef ist, so wie ein Minister, darauf angewiesen, daß das Fernsehen sein Gesicht zeigt. Jenseits der Glaswände von Berlaymont kennt ihn kaum jemand. Was ihn beflügelt, ist sein Sendungsbewußtsein. Es muß stark genug sein, um mit gelegentlichen Zweifeln, gegen die kein intelligenter Mensch gefeit ist, fertig zu werden. Mit ideenarme Bürokraten hat man es jedenfalls hier nicht zu tun. Wenn man solchen Leuten begegnet, kann man sich gelegentlich an das Selbstverständnis der Absolventen französischer Institute wie der ENA , der École Polytechnique

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