Sankya
Portwein-Gläser vom Vortag glitten, befahl er: »Keiner geht auf die Straße.«
»Es gibt keine Zigaretten mehr«, sagte Wenja belustigt.
»Werotschka geht« – sein Mädchen kam gerade in die Küche, sie lächelte irgendwie neu.
»Jetzt wissen alle, dass Sascha mein Freund ist«, interpretierte Sascha ihre Laune.
»Aber, weiß der Teufel …«, warf er eine Minute später ein.
»Wohin gehst du?«, fragte Werotschka.
»Ich komme bald.«
»San, Geld haben wir auch keines«, grinste Wenja.
Sascha gab Wera einen schönen, knisternden Geldschein. Wenja stieß einen Freudenschrei aus.
Er ging durch die Stadt und spürte, dass die Straßen und Plätze ihn hassten. Es war, als versuchten sie, Sascha aus diesen gleichmütigen und sensiblen Räumen hinauszudrängen. Und die böse, geradezu zähnefletschende Energie, die in Saschas Innerem pulsierte, reichte nicht mehr, um dem etwas entgegenzusetzen. Die Stadt war viel zu groß.
»Richten mag, wer richten kann, das Leben aber ist immer dasselbe«, murmelte Sascha unablässig, obwohl er diese Worte nicht wirklich verstand und auch nicht versuchte, sie zu verstehen. »Ich kann alles«, sagte er und berührte die Patronenhülse in der Tasche. Sie kühlte die Finger, selbst wenn man sie aufwärmte, hielt diese Wärme nur eine Minute lang.
Sascha ging nicht nach Hause, sondern betrat das benachbarte fünfstöckige Gebäude, stieg zur Dachbodentür hinauf, die mit einem riesigen Schloss gesichert war. Im benachbarten Treppenhaus war es auch so. Im dritten hatte er Glück. Das Schloss war aufgebrochen und man musste den verrosteten Bügel nur aufdrücken. Die Tür gab nach und wischte über den Boden. Aus dem dunklen Inneren roch es nach feuchtem Stein und Moder.
Er zündete das Feuerzeug an, sah aber trotzdem nichts – fast hätte er sich die Beine gebrochen, endlich fand er den Ausstieg aufs Dach. Der Griff der Dachluke war nur mit Draht umwickelt.
Er kroch ins Helle hinaus und stieg fast bis zum Rand des Daches. Er hockte sich hin, nahm den Hof in Augenschein, die Fenster seiner Wohnung, vereinzelte Passanten …
Er musste nicht lange suchen – am anderen Ende des Hofes stand ein schwarzer »Wolga«; die frischen Spuren verrieten, dass er erst kürzlich geparkt hatte, ohne Schnee auf dem Dach. Die Antenne wankte im Wind. Dieses Auto war normalerweise nicht hier, war Sascha klar.
Er stieg hinunter, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal, als würde er zu einem Rendezvous eilen.
In der Stadt gab es nur eine Fernsprechstelle, dorthin wollte Sascha. Zu Hause hob keiner den Hörer ab.
Er ging auf die düstere und ungeachtet des Morgens noch dunkle Straße hinaus. Der Schnee war hart, beißend, Sascha trug keine Mütze.
Er zögerte einen Moment lang, dann ging er ins Stadtzentrum – »hol mir die Mütze«, rechtfertigte er sich.
Mit dem Sammeltaxi war er schnell dort, huschte in den Hof vom Vortag, die Mütze hing auf einem Pfosten, nur voller Schnee und kalt, leblos. Er nahm sie, setzte sie auf, sie war durchgefroren, er wärmte sie mit dem Kopf.
Bei McDonald’s wurde aufgeräumt, die neuen Scheiben waren schon eingesetzt. Zum ausgebrannten Büro ging er nicht – von Weitem sah er, dass sich dort Leute tummelten. Auch Kameras standen herum. Es versammelten sich wohl die lokalen Journalisten. Sie waren aufgewacht …
Er setzte sich in einen robusten, schon recht altersschwachen Bus, fuhr eine ganze Runde durch die Stadt und verfolgte, wie sich der Fahrgastraum bis zum Bersten anfüllte und sich dann gegen Ende der Strecke wieder leerte. Die Schaffnerin, ein lautes und dickes Weib, das eine Stunde lang die dicht gedrängte Ansammlung von Passagieren gnadenlos herumgestoßen hatte wie Fleisch in der Gefriertruhe, seufzte plötzlich auf und wurde unerwartet einsam, ihre farblosen Augen irrten melancholisch umher.
»Was ist mit dir los?«, fragte die Schaffnerin Sascha an der Endstation.
»Ich habe meine Haltestelle übersehen, kann ich mit zurückfahren?«
»Wir bleiben zehn Minuten stehen«, lautete die mürrische Antwort. »Für die Fahrkarte muss nochmal gezahlt werden.«
»Ich zahle schon«, antwortete er.
Er dachte an Mama und an Jana. Sie wechselten sich in seinem Kopf ab, beide taten ihm unendlich leid, und beide waren ihm so nahe, dass er sofort für sie sterben wollte.
»Sie haben Jana die Zähne ausgeschlagen, ach …« Sascha erinnerte sich an die schnellen Bewegungen ihres Mundes, die Lippen und die feuchte Zunge, an die Augen, die ihren
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