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Sankya

Sankya

Titel: Sankya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zakhar Prilepin
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Gedichte für Kinder, absurde Gedichte, die ein, zwei Mal vor langer Zeit, vielleicht vor zwanzig Jahren gedruckt worden waren. Darin fand eine ganz einfach irreale, ursprüngliche Weltsicht ihren Niederschlag – sie glich der eines einjährigen Kindes, das die Welt erkennt, gerade erst lernt, sich zu artikulieren und zu verarbeiten, was es erstmals sieht – eigenständig zu verarbeiten, und das Erkannte auszusprechen, ohne dass ihm eingeflüstert wurde. Und die in Kostenkos Gedichten entworfene Welt war erstaunlich richtig, ursprünglich – genau so, wie sie sein soll, oder besser – genau so, wie sie ist; uns wurde diese Welt ganz einfach falsch gelehrt, vermittelt und erklärt. Und seitdem schauen wir auf viele Dinge, ohne ihren Sinn, ohne ihre Bedeutung zu verstehen …
    Genau dasselbe offenherzige Talent – alles gleichsam zum ersten Mal zu sehen – demonstrierte Kostenko in seinen philosophischen Büchern, allerdings war dort wenig vom Kind übrig geblieben … Güte kam dort überhaupt nicht vor. In ihnen schien bisweilen etwas Überirdisches durch, als hätte Kostenko in Bezug auf die Menschheit für immer und mit Recht resigniert. Er verstand es, seine Enttäuschung zu zeigen.
    Und während die »Sojusniki« nur hofften, dass die widerwärtige, verantwortungslose und heuchlerische Staatsmacht dieses Landes ausgewechselt würde, versuchte Kostenko für mindestens zweihundert Jahre im Voraus zu denken. Er sah dort etwas Wunderbares. Ach ja, nichts Wunderbares – sondern etwas Großartiges und Ungeheuerliches. Er versuchte eine Skizze davon zu entwerfen.
    Matwej – Sascha blickte zu Matwej – war sehr viel – wie soll man sagen – diesseitiger, als Kostenko, und deshalb war es mit ihm auch leichter. Sie saßen äußerst entspannt da und tranken Tee, Matwej bestellte für alle noch etwas zum Essen.
    Und dann entschuldigte er sich und packte zusammen.
    Er erinnerte sich: »Verdammt, ich habe vergessen, man erwartet mich im Bunker«, und es war glaubhaft, dass er tatsächlich erwartet wurde.
    »Matwej, kann ich mit dir gehen?«, fragte Negativ. »Ich hab da noch ein paar Fragen.«
    Matwej nickte: »Unbedingt. Ich habe dir auch noch nicht alles gesagt.«
    Er blieb mit Jana allein zurück. Sie hatte, das spürte er plötzlich, nach Matwej aufstehen wollen – Sascha aber mit diesem Haufen Brötchen zurückzulassen, in einer blöden Situation … oder beginnen, diese Brötchen in die Taschen zu verteilen … oder auf dem Tisch zurückzulassen … die Matwej doch eben erst bestellt und sofort bezahlt hatte … Kurz, sie hatte sich unmerklich gerührt, unterbrach die Bewegung und blieb sitzen. Sie riss ein Stück Schinken ab, kaute. Sascha betrachtete ihre Hände, die ein Glas hielten, er versuchte nicht einmal ein in dieser Situation passendes Thema zu finden, sondern begann einfach über Kostenko zu sprechen, über dessen Gabe, alles in Kontrasten zu sehen, in aller Deutlichkeit, in Farben, die selbst bei jungen Menschen schon verwischt und ausgeblichen sind.
    Jana hörte anfangs ruhig zu, dann wurde sie für kurze Zeit munterer, Fröhlichkeit blitzte auf, etwas Verqueres und Neugieriges in ihren Augen, das aber dann bald wieder erlosch. Sascha wollte – vermutlich – die Frage stellen – was er, Kostenko, denn für sie, Jana, bedeute. Wie er sich in den Pupillen ihrer Katzenaugen spiegelte. Sie hatte ihn ja ganz aus der Nähe gesehen, als er ihre schmalen Schultern drückte … Sie hatten dann etwas gesagt, nach dem, was zwischen ihnen geschehen war … Bei den Männern haben diese ersten Worte oft große Bedeutung … Sicher, ebenso häufig sind diese Bemerkungen vollkommen sinnlos …
    Sascha konnte seine Frage nicht stellen. Und deshalb sprach er und sprach, drehte seine Gedanken hierhin und dahin, bemerkte, dass Jana offenbar überhaupt aufgab, seinen Ausführungen zu folgen, und nur als Sascha etwas über Kostenkos kindliche Sichtweise sagte, meinte sie unerwartet: »Ich mag keine Kinder.«
    Und Sascha schwieg.
    Jana holte aus dem leergetrunkenen Teeglas die Zitronenscheibe, leckte sie ab, zog die Augen zusammen und saugte sie aus, ohne zu blinzeln.
    »Du hast gefragt«, sagte sie, »damals hast du gefragt, warum sie mich da nach dem Meeting freigelassen haben. Du hast ja meine abgerissene Kapuze gesehen. Du hast dich gewundert … Sie haben mich erwischt … Einer von der Sondereinheit. Ich schlug ihm vor, mich freizulassen. Er stimmte zu, stell dir vor! Wir sind einfach für zehn

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