Sanssouci
minutenlang verharren, auch wenn es von der Lösungszeit für die Arbeit abging. Sie spürte übrigens, ohne hinzuschauen, wie lange der Nachbar oder die Nachbarin ihr Heft oder ihr Arbeitsblatt studierte. Sie spürte ja auch, wenn jemand vor der Tür stand und lauschte. Ihr Vater und ihre Mutter spürten das auch. Die Deutschen spürten solche Dinge seltsamerweise nicht. Bei einem Deutschen konnte man eine Ewigkeit vor der Tür stehen und lauschen. Er merkte es nicht. Ihm fehlte dafür ein Sinn.
Allerdings unterschied Anastasia meistens nicht in »Russen« und »Deutsche«. Sie war zwar eine Russin, aber sie war jetzt auch eine Deutsche, denn sie lebte schon lange hier und war als Russin nicht mehr erkennbar, da sie völlig akzentfrei sprach. Hätte Anastasia einen Hang dazu gehabt, Dinge in ihrem Kopf deutlich zu benennen, hätte sie sich gesagt, daß es sie stolz mache, vollkommen assimiliert zu sein. Da sie in ihrem Kopf aber nie etwas deutlich benannte und das auch gar nicht anstrebte,befand sie sich in einem Zustand völliger geistiger Jungfräulichkeit, der ihr übrigens sehr gefiel.
Maja war anschließend auf dem Pausenhof zu ihr gekommen und minutenlang freundlich sondergleichen zu ihr gewesen. Sie umarmte sie und bedankte sich mit großer Herzlichkeit, die echt sein mochte oder nicht, Anastasia dachte darüber nicht nach und blieb wie immer höflich. Zu Majas Bedankungsaktion gehörte auch, daß sie unbedingt ein Gespräch mit ihr führen wollte, obgleich sich Anastasia sicher war, daß Maja sie für absolut langweilig hielt. Sie redeten über den Sportkurs, den sie gemeinsam belegt hatten, und Anastasia machte den Fehler, etwas von ihrer ehemaligen Schule in Omsk, also von ›damals‹, zu erzählen … eigentlich hatte sie sich geschworen, das nie mehr zu tun. Aber Maja fand gerade das interessant und stellte sogar Fragen nach dem Leben in Omsk. Als Majas Hofstaat nach fünf Minuten ungeduldig wurde, herbeikam und Maja loseisen wollte, gab Maja zu erkennen, daß sie sich gern noch länger mit ihr unterhalten würde.
Der engste Kreis um Maja Pospischil bestand aus drei Mädchen: Aische, Lee und Loredana. Von Aische gab es Kunstfotos, die ihr Bruder machte. Sie war bildhübsch und wurde vornehmlich in Kellern und an schlimmen Orten fotografiert. In einem Magazin waren Fotos von ihr aus dem ehemaligen Stasigefängnis erschienen. Auf diesen Bildern sah sie sehr abgründig aus. Lee war japanisch, Tochter eines Sanssouci-Gärtners, sie kannte jede Menge Tiere und Pflanzen, und sie kannte die geheimsten Orte im Park, das war ihre Spezialität. Loredana trug immer bauchfrei, hatte sagenhaft tief geschnittene Jeans(man sah ihre Beckenknochen) und musterte alle Welt sehr abschätzig.
Ja, Maja war ein großer Star, hatte einen riesigen Freundeskreis, ging dauernd auf Partys von Leuten, die Anastasia gar nicht kannte, und wohnte nicht mehr zu Hause. Neuerdings hieß es, sie sei mit Nils Ebert zusammen. Nils war einer der ganz Großen an der Schule. Dieser wiederum hatte Kontakt zu den Zwillingen, die für Anastasia das Widerwärtigste waren, was sie in Deutschland je angetroffen hatte. In ihrer alten Heimat wären solche Leute undenkbar gewesen. Dafür hätte man Gefängnisse gehabt. Oder Irrenanstalten.
Anastasia bewunderte Maja, aber auch das fand nicht in Worten statt. Genausowenig wie das tiefe Mißtrauen, das sie ihr gegenüber hegte.
Auch am nächsten Tag war Maja freundlich. Wieder kam es durch ihre Initiative zu einem Pausenhofgespräch. Aische, Lee und Loredana standen dabei. Nun wurde es doch etwas verbaler in Anastasias Kopf. Sie benutzt mich, um ihrem Hofstaat eine Machtdemonstration zu geben. Sie will ihrem Hofstaat zeigen, daß er im Handumdrehen entlassen und an seine Stelle so etwas wie ich, eine unwichtige, vollkommen graue Migrationsmaus, gesetzt werden könnte. Meine niedrige Stellung ist hierbei der einzige Grund, warum sie gerade auf mich kommt.
Für einen kurzen Moment wollte Anastasia reserviert auf Maja Pospischil reagieren, sagte sich aber dann, daß das kontraproduktiv wäre, und wurde im Gegenteil noch höflicher und freundlicher, als sie ohnehin schon immerfort war (sie war höflich und freundlich zu jedermann).
Maja fragte, wie sie, Anastasia, denn so den Tag verbringe, sie meine, ob sie viel zu Hause sei oder ob sie eher Freunde treffe und so. (Letzteres setzte natürlich voraus, daß sie welche hatte, ein eindeutiger Stich.) Anastasia sagte in vollkommener Offenherzigkeit, daß
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