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Sanssouci

Sanssouci

Titel: Sanssouci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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blickten ständig hinter ihr her. Sie erinnerte sie an eine Ratte. Übrigens küßte sie ihren eigenen Bruder auf den Mund.
    In der fünften und sechsten Stunde hatten Anastasia und Maja wieder zusammen Unterricht. Maja saß wie üblich hinten und Anastasia in der ersten Reihe. Anastasia setzte sich immer in die erste Reihe, sie hegte Verachtung für die Hintensitzer, die ihr arrogant erschienen, als nähmen sie sich auf demonstrative Weise das Recht heraus, die Schule zu verachten. Heute aber wünschte sie sich, ebenfalls hinten zu sitzen. Glücklicherweise hielt Nils Ebert ein Referat. Nils Ebert saß genau in der Mitte zwischen ihr und Maja, so daß Anastasia sie die ganze Zeit anschauen konnte.
    Den Sinn von Referaten hatte Anastasia vollkommen begriffen. Referate dienten dazu, daß der Lehrer nichts tun mußte. Seit zwei Wochen hielt im Deutschkurs reihum jeder ein Referat. Das Thema von Nils lag ihr vollkommen fern: Es ging um ein Buch namens Stopfkuchen . Nils erklärte, in dem Buch werde das, was erzählt wird, gar nicht erzählt, und gerade dadurch werde es erzählt. Darunter konnte sich der Kurs nicht gerade viel vorstellen. Ultramodern, rief jemand. Einige im Raum kicherten. Anastasia konnte sowieso keinen klaren Gedanken fassen. Alles, was Maja machte, kam ihr sehr schön und bewundernswert vor, etwa wenn sie an ihrem Kuli kaute oder sich mit einer anmutigen Bewegung zu ihrer Nachbarin wandte, um mit ihr zu tuscheln. Maja und ihre Nachbarin saßen da wie zwei beneidenswerte Heldinnen aus einem Roman. Anastasia wäre jetzt sehr gern diese Nachbarin gewesen. In ihrem Bauch wurde es warm. Als sie in der allgemeinen Diskussion, die auf Nils’ Referat folgte, einmal vom Lehrer drangenommen wurde, blicktesie unwillkürlich nach hinten zu Maja Pospischil, die ihr im selben Augenblick zulächelte. Anastasia war diesmal (so kannte sie der Lehrer nicht) um eine Antwort verlegen.
Auf dem Kapellenberg
    Anastasias Kirchgänge sahen folgendermaßen aus. Es begann mit einer gewissen Kleiderordnung. Einerseits zog sie sich möglichst schön an, andererseits aber benutzte sie dafür Kleidungsstücke, die noch aus Rußland stammten. In diesen Kleidern sah sie aus, wie früher alle ausgesehen hatten. Sie trug zum Beispiel eine bestimmte Art von hohen Schnürstiefeln, die man hierzulande, unter den Augen von Maja, Lee und den anderen, unmöglich anziehen konnte. Aber irgendwie gehörten diese Schnürstiefel dazu. Ob sich freilich in Omsk die Frauen nach wie vor so anzogen oder nicht (auch das Kopftuch gehörte unbedingt dazu), konnte Anastasia nicht sagen, denn ihr Leben in Rußland hatte ja vor unausdenklichen Zeiten stattgefunden, auch wenn es erst ein paar Jahre her war.
    Im Spiegel sah sie, daß sie für jemanden wie Maja absolut grotesk wirken mußte. Dennoch war es schön und notwendig so.
    Der Gang zum Kapellenberg war schwierig, da jederzeit die Gefahr bestand, irgendein Mitschüler oder eine Mitschülerin könnte sie so sehen und vor Lachen tot umfallen. Andererseits war sie einigermaßen davon überzeugt, daß sie sowieso niemand erkennen würde, weil man sie in dieser Gestalt niemals vermuten würdeund das Kopftuch überdies Schutz bot. Erst auf dem Berg fühlte sie sich sicher.
    In der Kirche waren viele von Anastasia beeindruckt. Das war nicht von ihr beabsichtigt, es lag an ihrem Aussehen und ihrer Art zu beten. Eigentlich nahm sie gar nicht so sehr am Gottesdienst teil, sondern stellte sich jedesmal vor eine von ihr sehr verehrte Madonnenikone, die an der rechten Seite der Kirche postiert war. Sie betete nach dem vorgeschriebenen Wortlaut und den vorgegebenen Wiederholungsmustern, und immer wenn sie an das Bekreuzigen kam, durchlief eine Welle ihren Körper. Sie betete inbrünstig zur Jungfrau, flehte um Vergebung für die geringsten Dinge und schwor Besserung und überhaupt stets den Beginn eines geläuterten Lebens (vor der Jungfrau begann für die Siebzehnjährige noch immer mit jedem Gottesdienst das Leben wieder von neuem). Nach der Meßfeier war sie erschöpft. Der junge Mönch, der seit einigen Tagen auf dem Kapellenberg war, blickte sie bei alldem nie an. Das fiel ihr auf.
    Niemals hatte sich Anastasia Hofmann Rechenschaft darüber abgelegt, was ihr die Jungfrau Maria eigentlich bedeutete. Anastasia verehrte und achtete Vater und Mutter, und Maria war eine Metamutter, eine, die unbedingt alles für einen tat und der man unbedingt in allem gehorchen mußte, eben weil sie einen unendlich liebte. Die

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