Sanssouci
sie sehr gern bei ihrer Familie sei. Sie gehe nach der Schule nach Hause, ihre Mutter warte mit dem Essen, und anschließend mache sie eigentlich den ganzen Nachmittag Hausaufgaben und lerne. Sei das nicht langweilig, fragte Maja. Sie sei es so gewohnt, antwortete Anastasia und schaute Maja an, als bitte sie um Verzeihung, daß sie so ein langweiliges, ödes, graues Wesen sei, das nicht in Frage komme. Übrigens falle ihr vieles nicht so leicht. Maja: Aber du bist doch sowieso gut in der Schule. Sie: Na ja, aber vielleicht auch eben nur deshalb, weil sie halt echt arbeiten müsse. Sie versuche nur, es so gut wie möglich zu machen. Am Anfang sei sie gar nicht mitgekommen. Sie habe sich alles erst erarbeiten müssen.
Es war völlig klar, daß Maja entgeistern mußte, was sie sagte. Insgeheim hoffte Anastasia, daß sich Maja jetzt von ihr abwenden würde. Statt dessen sagte Maja etwas für sie Unglaubliches. Sie sagte, daß sie doch, wenn sie wolle, mal etwas zusammen machen könnten, nachmittags oder abends. Du meinst, fragte Anastasia, ob wir zusammen lernen wollen? Oder Hausaufgaben machen? Nein, sagte Maja, oder vielleicht auch ja, aber ich meine, vielleicht hast du Lust, überhaupt mal mit uns mitzukommen. Mit euch mitzukommen, fragte Anastasia. Was bedeutet das, mit euch mitzukommen? Wohin? Maja: Na, zum Beispiel auf den Pfingstberg. Wir gehen heute nachmittag auf denPfingstberg, mit ein paar Freunden, das wird bestimmt schön. Und dann gehen wir ins Hafthorn. Kennst du das Hafthorn? Sie: Nein, was ist das? Maja: Du kennst das Hafthorn nicht? Hör zu, ich finde, du solltest unbedingt mitkommen. Hast du denn ein paar Freunde oder Freundinnen? Sie: Ich kann die Frage so nicht beantworten. Ich bin sehr viel zu Hause. Wir sind oft zusammen, die ganze Familie und noch einige Bekannte. Du würdest es unglaublich langweilig finden. Maja schaute sie liebevoll an. Nein, sagte sie, ich würde gern mal mitkommen. Dann ertönte die Pausenglocke, und sie gingen getrennt in ihre jeweiligen Kurse.
Anastasias nächste Stunde war Mathematik. Sie saß mit glühendem Gesicht im Unterricht und fühlte sich, als habe ihr jemand auf den Kopf geschlagen. Anastasia Hofmann hatte große Probleme, dem Unterricht zu folgen. Einerseits sah sie sich mit einer Gruppe von Schulkameraden durch den Sommertag (heute) laufen, durch den Park und auf den Pfingstberg, über blühende Wiesen, alle redeten miteinander, lächelten, waren fröhlich … andererseits fragte sie sich, wozu man mit Leuten, die man gar nicht kennt, durch den Park und auf den Pfingstberg laufen soll? Und warum sollte sie lächeln? Am Ende waren noch diese … Meurers dabei (sie empfand einen solchen Ekel vor den beiden, daß es ihr fast hochkam). Nein, sie fand die Jungs und Mädchen, die da mitkommen würden, schon im voraus unerträglich, und überdies stand es ihr, der siebzehnjährigen Tochter eines Diplomingenieurs der Technischen Hochschule in Omsk, besser an, das Essen gemeinsam mit der Familie einzunehmen und sich nichtdraußen herumzutreiben. Sie hatte sich schon vor unausdenklichen Zeiten vorgenommen, nie so zu werden. Sie war keine Streunerin. Wahrscheinlich rauchten sie alle.
Bei ihrer Mutter stand jeden Tag Borschtsch auf dem Herd, dünn und mit roter Bete. Anastasia aß den Borschtsch immer mit demselben Holzlöffel, mit dem sie schon als Fünfjährige gegessen hatte. Er war mit Bauernmalerei verziert. Wollte sie dabei von jemandem wie Maja Pospischil gesehen werden? In der Küche ihrer Mutter, die im Vergleich zur Küche in Omsk zwar besser, im Vergleich zu jeder deutschen Küche aber geradezu asozial aussah? Einer am Tisch mußte sich infolge einer Wandschräge sogar stets etwas bücken.
Nein, Maja und alle anderen durften niemals sehen, wie es bei ihr zu Hause war. Und ihren Vater und ihre Mutter sollten sie auch nicht sehen. Niemals.
So saß sie im Unterricht. Mal sah sie sich zu Hause bei ihren Eltern, mal auf dem Pfingstberg. Mal sah sie sich Borschtsch essen, mal rauchen. Vor allem sah sie Maja Pospischil, wie sie über die Wiese am Pfingstberg lief, mit in der Sonne leuchtenden Haaren. Maja hatte wirklich schöne Haare, und sie hatte sehr schöne blaugrüne Augen. Auch ihre Augenbrauen waren schön. Überdies hatte sie Sommersprossen. Anastasia begriff nicht, wieso an der Schule gerade diese ekelhafte, schmierige Heike Meurer, die fast nackt herumlief und offenbar keinerlei Kleidungsstücke besaß, als die Schönste von allen galt. Selbst die Lehrer
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