Sanssouci
Ikone, die Anastasia zu Hause im Bücherregal stehen hatte, bedeckte sie nachts oft mit Küssen.
Heute war der Gottesdienst kurz ausgefallen, Klein hatte am Vormittag noch etwas in der Stadt zu erledigen gehabt. Nach dem Gottesdienst war es vor der Kapellewie schon in den Tagen zuvor zu Gesprächen zwischen den Gemeindemitgliedern und dem jungen Assistenten gekommen, dem Mönch. Anastasia hatte eine Weile dabeigestanden und Bruder Alexej betrachtet. Sie fand den Mönch hübsch und stellte sich vor, wie es wäre, allein mit ihm zu sprechen. Und was sie dann reden würden. Sie würde ihm alles über ihren Glauben erzählen, denn mit der Familie konnte sie darüber nicht reden.
Später in der Stadt flogen ihre Gedanken wieder in ganz andere Richtungen, aber dennoch erinnerte sie sich im Verlauf des Tages immer wieder an den Mönch dort oben.
Alexej war nun fast eine Woche auf dem Kapellenberg. Je mehr er in der Verwaltung der Pfarrei abarbeitete, desto größere Mengen an liegengebliebenem Schriftverkehr und unerledigter Buchhaltung kamen zum Vorschein. Innerhalb der orthodoxen Gemeinde redeten alle von dem Mönch, dazu hatten nicht zuletzt sein angenehmes Äußeres und seine zurückhaltenden, höflichen und aufmerksamen Umgangsformen beigetragen. Da Alexej noch nie ein Amt in der Gemeinde ausgeübt hatte, wußte er nichts von seiner Wirkung auf die Menschen. Auch Klein schien davon überrascht und dankte Gott im stillen für diese angenehme und gewinnbringende Entlastung. Klein sprach gern mit Alexej und war über die Einfachheit und Klarheit seiner Ansichten und Glaubensgrundsätze immer wieder erstaunt.
In diesen Tagen verließ Alexej den Kapellenberg kaum. Er hatte sich ganz ins Büro des Erzpriesters vergraben, sortierte, legte ab, machte Buchhaltung, daneben ging erimmer wieder in die Kapelle. Er versuchte seinen Tagesablauf soweit wie möglich dem Tagesablauf im Kloster des heiligen Hiob von Potschajew anzugleichen. Er stand morgens um drei Uhr auf, verbrachte eine Zeit mit Beten und Lektüre, kochte sich so leise wie möglich Tee und fand sich um vier allein in der Kapelle ein. Die späteren Vormittagsstunden gehörten der Büroarbeit, unterbrochen vom Gottesdienst, bei dem er mit großer Freude assistierte. Nachmittags besprach er sich mit Klein, der Abend gehörte der Lektüre oder, wenn es unabänderlich war, erneut der Gesellschaft. Ein- oder zweimal traf er Christoph Mai, wobei er sich immer nach den Zwillingen erkundigte.
Wie stark die Gemeinde auf ihn reagierte, begriff Alexej zunächst nicht, weil er dachte, es sei schon vorher üblich gewesen, daß die Gemeindemitglieder nach dem Gottesdienst mit Klein bzw. dem Assistenten redeten. Erst nach einigen Tagen wies Klein ihn darauf hin, daß er selbst Auslöser dieser Versammlungen war.
Auch Ludwig Hofmann pilgerte zum Kapellenberg hinauf, um den Mönch zu sehen. Ihm war aufgefallen, wie die Augen seiner Tochter leuchteten, wenn sie von dem Geistlichen redete. Er wußte, daß alle Russen in Potsdam von dem jungen Mann sprachen.
Als Hofmann den Hügel erklommen hatte, blieb er am Rand der Versammlung stehen und musterte den Mönch. Es handelte sich zweifellos um den Mönch, den er bei Malkowski im Sender gesehen hatte. Alexej stand mit einigen Russen, Georgiern und Ukrainern vor der Kirche, hatte die Hände gefaltet und hörte den Leuten zu.Viele klagten ihr Leid oder wollten, daß er ihren Kindern oder ihren greisen Eltern die Hand auf die Stirn lege, um sie zu segnen. Darauf reagierte der Mönch ausweichend. Er nickte allen freundlich zu, ermunterte aber niemanden von sich aus, das Wort an ihn zu richten. Ludwig Hofmann spürte, daß die ganze Versammlung für den Mönch eine Last war. Allerdings wehrte sich der Mönch nicht dagegen.
Hofmann wurde von Frau Krawschenko aus der Lutherstraße und Herrn Grigoriew aus der Mengerstraße angesprochen. Ah, rief Frau Krawschenko, Herr Hofmann, wie erfreulich, Sie hier zu sehen, kommen Sie endlich auch einmal hier herauf zu unserem Väterchen, der so ein gutes Väterchen ist und ein so großes Herz für uns alle hat? (Sie meinte den Erzpriester Klein.) Also folgen Sie doch einmal Ihrer Tochter Anastasia! Herr Grigoriew machte gewisse Bemerkungen über Anastasia. Hofmann solle auf der Hut sein, die Kirche sei ein Ort Gottes und der Gemeinde und nicht allein herumlaufender siebzehnjähriger Mädchen, übrigens bete sie seit der Ankunft des Mönchs mit einer Inbrunst, die nicht nur ihm auffalle.
Ludwig Hofmann
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