Sanssouci
sie hätte sich heute und in hundert Jahren nicht zugegeben, daß nur die töchterliche Liebe und der Respekt vor ihrem Vater sie daran hinderten, das über ihn zu denken, was sie über jeden Russen und über generell jeden Aussiedler dachte. Nämlich daß er zu schlecht Deutsch spreche, zu wenig Anstrengungen unternehme und sich überhaupt viel zu wenig um alles kümmere. Kurzum, daß er selbst schuld sei . Anastasia Hofmann sprach, wenn es nicht um ihren Vater ging, gern die Sätze nach, die jeder in diesem Land sagte, nämlich daß man sich bemühen müsse, daß man sich um seine eigene Zukunft kümmern müsse, daß man fleißig seinmüsse, daß man also das Leben in die eigene Hand nehmen solle und es an jedem selbst liege, was er daraus mache, daß jeder seines Glückes Schmied sei, daß nur wer wagt, gewinnt, daß niemand einem die Kastanien aus dem Feuer hole, daß man sich am eigenen Schopf herausziehen müsse etcetera ; und sie sagte diese Sätze mit dem Charme einer völlig unschuldigen Siebzehnjährigen.
Anastasia hätte man für die Schülerin einer Mädchenschule halten können, wenn es eine Mädchenschule in Potsdam gegeben hätte. Sie war schnell und gern glücklich, lebte anspruchslos, achtete auf Kleidung und Auftreten, aber nicht in einem koketten Sinn, und sie ging davon aus, daß ihr eines Tages ein zauberhafter Mann begegnen würde, der Deutscher war, sie heiraten würde und dem sie dann eine liebe, nette, zuvorkommende, fleißige Ehefrau mit schönen Kindern sein würde. Wobei sie diffus und unausgesprochen zwei Varianten im Sinn hatte, nämlich daß der besagte Mann sie entweder ihr ganzes Leben versorgen werde oder daß sie neben alldem vielleicht auch noch eine Universitätsdozentin mit einem ordentlichen Einkommen und einem geregelten Alltag sein werde. Übrigens glaubte sie, daß ihr Vater in Omsk genau so gelebt hatte (weil ein Leben zu Hause und in der Heimat eben so vonstatten ging): sicher, schön, unabenteuerlich. Und ihre Heimat war jetzt Deutschland.
Anastasia war wirklich nicht kokett. Sie blinzelte den Männern nicht mit schräggelegtem Kopf in die Augen. Ob sie die russischen Frauen mit Hang zum Erobern deutscher Männer zwecks finanziellem Versorgtsein verachtete oder nicht, war schwer zu sagen. Sie schaute,wenn sie diesen Frauen begegnete (ihr Vater nannte sie Vampire), staunend hin und dann sehr schnell wieder weg. Es hatte mit ihr augenscheinlich wenig zu tun. Kurzum, für Anastasia Hofmann war die Welt unbedingt gut und in Ordnung.
In der Schule war sie ein Muster an Fleiß. Gestern hatten sie eine Chemiearbeit geschrieben, das war zwar eines ihrer schwächsten Fächer, aber dennoch war sie die Zweitbeste im Unterricht (letztes Jahr hatte sie zehn Punkte erreicht, unbestrittener und unerreichbarer Star in diesem Fach war Nils Ebert). Während der Arbeit hatte sie sich ans Fenster gesetzt, damit man nur auf einer Seite von ihr abschreiben konnte. Ganz konnte sie sich nicht entziehen, wenn jemand von ihr abschreiben wollte. Während Nils in geradezu unglaublicher Weise den Mitschülern ganze Blätter zuschob (er hatte deshalb schon einige Male null Punkte wegen Betrugsversuchs bekommen, was ihm absolut gleichgültig war), setzte sie das Abschreiben immer unter Druck. Sie bekam Herzklopfen und fühlte sich unwohl. Andererseits wäre es auch nicht ratsam erschienen, gar nicht abschreiben zu lassen. Sie ließ es über sich ergehen wie ein Lamm, das man zur Opferbank führt. Gestern bei der Arbeit hatte Maja Pospischil neben ihr gesessen. Maja war ihr eigentlich nicht unangenehm, aber sie war politisch, war links, war gegen den Staat, gegen Leistung, hatte wohlhabende Eltern (gegen die sie auch war), und sie war natürlich auch gegen die Schule. Eine gute Note wollte sie dennoch haben. Maja hatte sie nach dem Abschreiben unglaublich herzlich und geradezu verliebt angelächelt (Maja trug einHaartuch in ihrer Lieblingsfarbe und sah, wie Anastasia fand, einerseits schön, andererseits aber zu auffällig aus, zuviel Signalwirkung … Anastasia wußte, daß sie so nie herumlaufen würde).
Anastasia hatte sich, wenn von ihr abgeschrieben wurde, folgende Verhaltensweise angewöhnt: immer wenn der Nachbar oder die Nachbarin Interesse an ihrem Heft entwickelte, lehnte sie sich zurück, setzte eine nachdenkliche Miene auf, nahm ihren Kugelschreiber zwischen die Lippen und schaute zum Fenster hinaus, wobei sie sich insgesamt Richtung Fenster drehte. In dieser Haltung konnte sie
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