Sanssouci
betrachtete Herrn Grigoriew von oben bis unten. Grigoriew war nicht größer als ein Meter fünfundsechzig, mindestens zehn Zentimeter kleiner als Anastasia. Er trug einen winzigen Hut aus festem, schwarzem Filz, dicke Koteletten, eine Hornbrille und ein Sakko, in dem er seine Pfeife verstaute. Was haben Sie eben gesagt, fragte Hofmann.
Nein, nein, begreifen Sie mich recht, sagte Grigoriew, ich teile durchaus die Ansicht unserer liebenKrawschenkowa, ich finde, unsere Gemeinde muß zusammenhalten, und es freut mich besonders, Sie hier zu sehen, vielleicht sind ja auch Sie wegen unseres jungen Priesterzöglings gekommen. Sehen Sie, Herr Hofmann, es ist niemals zu spät, überdies … mit Verlaub … sehen Sie, ich urteile keinesfalls, nein, denn würde ich urteilen … (er griff Hofmann am Arm) … wissen Sie, dann müßte ich vor allem mich beurteilen. Ich habe früher, in Rußland, nicht in der Gemeinde gelebt. Nein, nein. Aber plötzlich … hier, in Deutschland … wurde der Glaube ganz stark. Sehen Sie, jetzt hat es Sie auch erwischt.
Und was ist mit meiner Tochter, fragte Herr Hofmann. Was meinten Sie da?
Ich wollte nur sagen, antwortete Grigoriew, daß es doch für alle besser wäre, wenn die ganze Familie hier erschiene. Das ist doch nicht gut, die Tochter … so allein … hier oben, da wird doch geredet, das wissen Sie doch. (Leiser:) Glauben Sie, daß ich die Anwesenheit dieses jungen Mannes hier oben vorbehaltlos gutheiße? Ein orthodoxer Geistlicher ist verheiratet oder im Kloster, aber hier kommt dieser junge Mann doch in auffällige Berührung mit … mit … nun, Sie wissen schon. Es betrifft ja nicht allein Ihre Familie. Die Menschikows haben ihrer Ludmila bereits den Kapellenberg verboten, bis der Sekretär wieder da ist.
Hm, machte Herr Hofmann und verfolgte, wie Frau Krawschenko nun mit der dringlichen Frage an Alexej herantrat, ob Gott Krankheiten auch von Sündern heile oder ob er wirklich nur Krankheiten der Menschen heile, die niemals sündig geworden sind … Natürlich hätteFrau Krawschenko im normalen Leben diese unsinnige Frage niemals gestellt, vor allem nicht mit einer solchen Inbrunst, aber angesichts des jungen Mönchs war sie, wie viele andere auf dem Kapellenberg, geradezu verzückt … Der Mönch wirkte etwas nervös und kam gar nicht dazu, die Frage zu beantworten, denn Herr Grigoriew wollte nun seinerseits unbedingt wissen, ob die Seelen der Menschen im Himmel seiner, Bruder Alexejs, Meinung nach »transparent« seien oder nicht und ob sie sich dadurch von denen, die nicht in den Himmel kommen, unterscheiden. Alexej sah ihn erstaunt an und fragte, was er denn mit dieser Frage meine. Grigoriew erklärte seine Frage, ohne daß sie dadurch verständlicher wurde, kurzum, sagte er, er wolle wissen, wie die Wesen im Himmel seien, ob sie alle eins seien oder noch einzeln, und wie er, der Mönch, das sehe. Alexej antwortete, er verstehe nicht, warum er ihm diese Frage stelle. Die Autoritäten sprechen von Transparenz, rief Grigoriew, aber wenn wir alle transparent sind, sind wir nicht mehr, dann sind wir alle bloß ein Licht! Alexej sagte, er wisse nicht, was die Autoritäten sagen … es scheine ihm auch sehr speziell … alles das drücke er so eigenartig aus.
Das habe er nicht verstanden, wie drücke er es aus? Wie? rief Grigoriew.
Inzwischen hatten sich einige weitere Leute zwischen Grigoriew und den Mönch gedrängt.
Immer mehr Fragen prasselten auf den Mönch ein. Er tat Hofmann leid. Da loderte nun durch ihn ein wahres Glaubensfeuer auf dem Kapellenberg, und sogleich geriet es außer Kontrolle.
Die eigenartige Versammlung dauerte eine geschlagene Stunde, dann zogen die Gemüter beruhigt und erhoben, manche geradezu verklärt, wieder in die Niederungen der Stadt, Alexej blieb erschöpft zurück, und Ludwig Hofmann, auf den der Mönch ebenso vertrauenswürdig wie sympathisch gewirkt hatte, lief in die Gutenbergstraße, um dort in einer kleinen Wirtschaft, die er seit einigen Tagen hin und wieder aufsuchte, Bier zu trinken.
Grigorijs Kapelle
Anastasia Hofmann entwickelte ein ihr bislang unbekanntes Interesse an Beckenknochen und Bauchnabeln. Seitdem sie Loredanas Jeans trug, konnte sie sich von ihrem Spiegelbild kaum mehr trennen. Alle sagten, daß ihr diese Hose sagenhaft gut stehe.
Anastasia hatte sich schneller als erwartet in der Gruppe akklimatisiert. Mit Lee verstand sie sich sehr gut. Aische war schon ziemlich erwachsen, sie verkehrte fast ausschließlich mit Leuten,
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