Sanssouci
die über zwanzig waren. Loredana war die Schwierigste, sie verzog über vieles den Mund. Und doch war sie die erste, die Anastasia ein Kleidungsstück angeboten hatte. Als Anastasia Loredanas Jeans anprobiert hatte, war die einstimmige Meinung der Gruppe gewesen, Anastasia müsse sich in Zukunft unbedingt auf diese Weise kleiden. Tatsächlich erzielte sie sofort Wirkung auf Jungs. Jungs waren in ihrer Welt bislang nicht vorgekommen. Einmal trank Anastasia im Kotz wie die anderen Mädchen eine Flasche Bier (man hielt die Bierflaschelocker in der Hand und ließ den Arm lässig baumeln, das gehörte dazu), als sie von einem Jungen in ein Gespräch verstrickt wurde. Der Junge war ganz begeistert und wich nicht von ihrer Seite. Anastasia verwirrte das. Er kannte ihren Namen und hatte sich augenscheinlich schon seit einigen Tagen in sie verguckt. Als er ihr ein zweites Bier holen wollte, ging sie. Sie fühlte sich nicht wohl und wußte nicht, was sie denken sollte. Es war seltsam gewesen, mit diesem Jungen zu reden. Sie wußte nicht, ob sie das wollte. Er hatte sie so seltsam angeschaut.
Die Mädchen hatten spezielle Orte. Anastasia lernte in kurzer Zeit eine neue Welt kennen. Da war zum einen das Kotz, in das hineinzugehen sie noch vor wenigen Tagen nie gewagt hätte. Das wäre vorher schon kleidungstechnisch nicht gegangen. Dort trat man in die Welt der Bauchnabel und Beckenknochen ein. Bisweilen gingen sie auch ins Hafthorn, aber das Lokal war Anastasia nicht so sympathisch, weil man dort die Zwillinge traf. Es ging das Gerücht, Heike Meurer sei vor ein paar Tagen geschminkt und in einem roten Kleid auf der Berliner Straße dabei gesehen worden, wie sie mit einem Mann in ein Taxi gestiegen sei. Kurz danach habe sie apathisch, unansprechbar und wieder in Schwarz im Café Fajngold herumgesessen, noch mit Lippenstift im Gesicht. Solche Geschichten wurden öfter erzählt. Aber anstößige Geschichten gehörten zum allgemeinen Schulgespräch dazu. Anastasia wußte nicht, ob man ihnen Glauben schenken sollte.
Sehr oft gingen sie nach Sanssouci. Der Park war aus verschiedenen Gründen ihr Hauptort geworden. In den Abendstunden färbte die Sonne die Fassaden derSchlösser und Tempelchen rot, die Zeit verging, ohne daß sie es merkten, sie fühlten sich frei und schwerelos, setzten sich auf Treppen, wippten mit den Füßen oder liefen auf Mäuerchen entlang, wobei sie ihre Arme nach links und rechts ausstreckten, um das Gleichgewicht zu halten. Sie durchquerten die Wiesen, sahen Blaumeisen, Kleiber, Finken, Fingerhut, Jasmin und Gundermann (Lee war die geborene Naturführerin), dann tranken sie aus einem Brunnen, streckten ihre Füße ins Wasser oder saßen einfach auf dem Rasen, Rücken an Rücken.
Manchmal trafen sie sich mit einer größeren Gruppe von Kotz- oder Hafthornleuten an der Großen Fontäne, dann waren bisweilen auch die Meurer-Zwillinge dabei (Anastasia konnte einmal ganz deutlich sehen, daß Heike Meurer keine Unterwäsche trug). Zum engen Kreis gehörte neben den Mädchen aber eigentlich nur noch Nils Ebert. Anastasia mochte Nils. Ihr gefiel, daß er so klug und in jeder Hinsicht überlegen war, ohne auch nur eine Spur arrogant zu wirken. Man sagte, daß Maja vorletzte Woche mit Nils eine Nacht in einem leerstehenden Haus in der Gregoriusstraße verbracht habe. Das sei der Beginn der Liebe zwischen Nils und Maja gewesen. Nils habe damals mitten in der Nacht bei Maja in der WG geklingelt … eine Geschichte von großer Liebe und Zärtlichkeit …
Romantische Vermutungen und Erzählungen umrankten die beiden von Anfang an. An der Schule waren sie das Paar. Eigentlich waren beide völlig unterschiedlich und paßten nicht zueinander, Nils war im Vergleich zu Maja ruhig und sachlich, Maja war viel lebhafter. Aberirgendwie fiel der Unterschied zwischen ihnen gar nicht ins Gewicht, man hatte sie vom ersten Moment als Paar wie etwas hingenommen, das einfach so war, wie es war.
Lee und die anderen Mädchen kannten ein weitverzweigtes, geheimnisvolles Gangsystem unterhalb der Parkanlage. Als Anastasia zum ersten Mal einen Eingang zu dieser unterirdischen Anlage gezeigt bekam, glaubte sie, nur die vergessene Tür eines von allerlei Gestrüpp überwucherten Schuppens vor sich zu haben. Bei der Anlage handelte es sich um alte Bewirtschaftungstrakte und Transportgänge, die im Dritten Reich teilweise ausgebaut und mit Luftschutzkellertüren ausgestattet worden waren. Heute wußte kaum mehr jemand von diesen Gängen und
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