Sanssouci
gewinnbringender. Sie sprachen jeden Tag vielleicht zehn Minuten, meistens nicht allein, und auch wenn sie allein vor der Pforte der Alexander-Newski-Kapelle standen, fanden nie Gespräche zwischen ihnen statt, die nicht auch andere Ohren hätten hören können. Sie taten das nicht mit Absicht, sondern es geschah einfach so, und es sah auch keiner von beiden eine Vorsichtsmaßnahme darin.
Auch als Anastasia erstmals von jenem Erlebnis imunterirdischen Sanssouci sprach, geschah es vor der Kapelle. Unten in der Stadt hätte sie mit Sicherheit niemals über diese Sache zu reden gewagt. Sie schilderte den Kapellenraum, erzählte von dem Ikonenbild und der Fotografie, ohne allerdings Heike Meurers Namen zu erwähnen, denn um nichts in der Welt ging sie davon aus, daß der Mönch diese Hexe kennen könnte. Sie sprachen an diesem Tag über Andacht und Kulte, und das unterirdische Sanssouci galt Anastasia in diesem Zusammenhang als Beispiel für einen Privatkult, es handelte sich um die kultische Verehrung eines Mädchens, letztlich also (dieses Wort fiel nicht, es war aber klar) um die kultische Verehrung von Sexualität, die offenbar im Geheimen und im Bösen enden mußte.
Alexej riet Anastasia, nicht zu viel über solche Dinge nachzudenken. Er versuchte den Eindruck zu dämpfen, den Anastasia von diesem Erlebnis zurückbehalten hatte. Er erzählte, wie er mit einem ehemaligen Bekannten im Übergangswohnheim in Winsen an der Luhe selbst solche Nischen eingerichtet hatte, in ihrem kleinen Zimmer, allein um einen Ort für ihre religiösen Verrichtungen zu haben. Natürlich hätten sie auch in ein Gotteshaus gehen können, aber sie waren damals in einem provisorischen Lebenszustand und schufen sich Halt, wo es ging. Freilich konnte das auf Außenstehende sektiererisch wirken. Aber in den damaligen Wochen war es nicht anders möglich gewesen.
Natürlich war damit Grigorij gemeint. Alexej hatte ihn übrigens seit seinem ersten Tag in Potsdam nicht mehr gesehen. Auch seine Tasche mußte noch immer in Grigorijs Zimmer auf der Babelsberger Seite liegen.
Verschiedene Dinge geschahen in diesen Tagen. Heike war im Fernsehen zu sehen. Der Bericht über die Versammlung im Festsaal des Rathauses fiel auf den ersten Blick moderat aus. Es hieß, das Schaffen und die Person des Künstlers werde von unterschiedlichen Seiten unterschiedlich bewertet. Als man den Buchhändler Wenk (AG Hornung) sagen hörte, das Privatleben eines Künstlers sei öffentlich nicht verhandelbar, zumindest nicht für städtische Behörden, schwenkte das Bild zuerst über das allgemeine Publikum im Saal, dann geschah, beim Wort Privatleben, ein Schnitt direkt auf Heike Meurer, die auf solche Weise für einige Momente den ganzen Bildschirm ausfüllte. Als Ludwig Hofmann das sah (er sah diese Sendung wie fast jeder in Potsdam), wurde er wieder an Methoden erinnert, die er noch kannte aus dem anderen Land. Es bedurfte beim Wort Privatleben nur dieses Schnitts auf das Gesicht des Mädchens, und schon war die Information öffentlich.
Drei Tage nach der Versammlung im Rathaus veranstaltete die Kotz-Theaterlaiengruppe ihre stadtweit plakatierte szenische Lesung von frühen Oststadtfolgen. Die Aufführung fand im Zerosaal statt, einer Halle, die meistens für Jugendveranstaltungen genutzt wurde und in der sonst Independentbands auftraten. Da sich dort am Nachmittag während eines Konzerts zahlreiche Kotzleute mit Kapuzenpullis versammelt hatten, um eine Taktik für die bevorstehende große Antigarnisonkirchendemonstration auszuhecken, geriet auch die Hornung-Veranstaltung in eine politische Richtung. Schon vor der Aufführung wurden Handzettel verteilt, auf denen zu lesenstand: Mit Oststadt gegen die Garnisonkirche . Ein großes Antigarnisonkirchenbanner wurde aufgehängt und empfing die jubelnden Besucher über dem Saaleingang. Man hatte den Eindruck, es handle sich bei der Veranstaltung selbst um eine Demonstration.
Die Veranstaltung begeisterte die zumeist jungen Zuschauer, auch wenn miserabel vorgelesen wurde. Oststadt war unter ihnen schon längere Zeit Kult. Man las die Dialoge wie Schlüsseltexte, wobei jeder Satz eine zweite Bedeutung bekam. Im Publikum wurde alles verstanden, viele Sätze bekamen Applaus. In Folge zwei zum Beispiel sagt die Figur Lutz Beinow bei ihrem allerersten Auftritt in der Serie: »Ich komme hier eigentlich nie her.« Der Satz wurde stürmisch bejubelt. Man sah darin einen grandiosen Ausdruck für die absolute Provinzialität Potsdams.
Weitere Kostenlose Bücher