Sanssouci
… wahrscheinlich hat sie einfach schon alles getan, alles, was denkbar ist. Das Mädchen wurde in diesem Augenblick urplötzlich der hundertprozentige Ausdruck all ihrer Begierden. Für das, was jetzt in ihrem Kopf vonstatten ging, verwendete die Sekretärin das Wort »großes Kino«. Die Bilderfolgen, die sie vor Augen hatte, ergaben sich in etwa aus dem, was sie neulich in den unterirdischen Kelleranlagen im Park Sanssouci gesehen hatte, und aus den allgemeinen Vorstellungen, die ihr das erwähnte Boulevardblatt nahelegte, gemischt mit ihren eigenen Phantasien. Noch wenige Sekunden zuvor wäre sie nie darauf gekommen, daß man sich das ausdenken könnte: so hart an die Kandare genommen zu werden, so hart und überaus brutal von einem siebzehnjährigen, extrem bewußten Mädchen. Die Sekretärin geriet in äußerste Erregung.
So saß sie neben Heike. Als Heike merkte, daß ihr die Frau im grauen Kostüm unmotiviert ins Gesicht lächelte, begriff sie dieses Lächeln zuerst nicht, dann war sie entgeistert. Was ist denn, fragte sie.
Was soll sein, fragte die Frau zurück und fuhr fort, sie anzulächeln.
Suchen Sie ein Gespräch, oder was suchen Sie, fragte Heike über ihrer Bierflasche.
Was könnte ich denn suchen, fragte die Frau sehr interessiert.
O mein Gott, sagte Heike, stand auf und verließ den Tresen. Noch so eine, dachte sie. Das ist ja furchtbar, was die angerichtet haben. Da kommt man ja gar nicht mehr raus. Da ist mir Grigorij, ehrlich gesagt, noch lieber. Der arme Kerl.
Heike lief durch den Raum und ließ sich mit ihrer Bierflasche auf einem Kissen nieder, außer Sichtweite der Bar. Sie war in Gedanken schon längere Zeit bei Grigorij. Vorhin war er ihr wie ein Hündchen nachgelaufen, alles hatte wie am Schnürchen geklappt, es hatte genau so funktioniert, wie sie gedacht hatte … Grigorij hatte das Foto letzte Woche in seine Kapelle gebracht, und sie war heute, wie versprochen, zur Einweihung mit ihm dort gewesen … dennoch fühlte sie sich jetzt mitgenommen. Als er ihr nachgelaufen war, hatte sie sich immer wieder umgedreht und seinen Gesichtsausdruck gesehen, diesen Blick, der so etwas Höriges hatte. Wahrscheinlich waren es die furchtbarsten Momente in seinem Leben gewesen … Grigorij hatte Ehrfurcht vor ihr, wie vor einem Engel. So stumm, wie er in sich versunken war … Er hatte Demut empfunden, er wäre auch im Dreck gekrochen, hätte sie es ihm befohlen. Ja, es war eine seltsame Stunde mit Grigorij gewesen. Wie muß er jetzt leiden, dachte Heike. Niemals hätte Grigorij sehen dürfen, was er gesehen hat. Das stand Heike deutlich vor Augen. Und doch war es sein größter Wunsch gewesen. Auf jede ihrerReaktionen hatte er geachtet, als er hinter ihr hergelaufen war, auf jede kleinste Bewegung, auf jede kleinste Regung in ihrem Gesicht, wenn sie sich umgedreht hatte. Immerfort hatten ihm Tränen in den Augen gestanden. Am Grünen Gitter hatte sie seine Hand genommen, um ihn in die Friedenskirche zu ziehen, und hatte auf ihn einzureden begonnen wie auf ein Kind. Jeder ihrer Augenbewegungen war er mit seinem Blick gefolgt, seltsamerweise lag gerade in diesem hündischen Verhalten eine gewisse Würde. Ein Mensch, der seine Scham überlebt hatte … Ja, sagte sich Heike, der Unterschied zwischen Grigorij und den anderen ist, daß Grigorij dieses Hündische an sich hat, während alle anderen noch im Augenblick ihrer größten Erniedrigung so seltsam panisch um sich blicken, als hätten sie noch etwas zu verlieren. Wie ängstlich er übrigens auf dem Weg durch den Park war! Und als wir die Pforte erreichten, die Pforte zur Unterwelt, lief er mir einfach weiter hinterher, und seinen Raum zeigte er mir höchst beschämt. Wieviel Mühe er darauf verwendet hat! Der arme Kerl.
II
Grigorijs Geständnis
Am selben Tag entschloß sich Alexej endlich, etwas zu tun, was er nun schon mehrfach verschoben hatte, nämlich seine Tasche bei Grigorij abzuholen. Er hatte sich bisher nicht zu einem zweiten Besuch bei Grigorij durchringen können. Es wurde aber immer unentschuldbarer, daß er nun schon fast drei Wochen die Augen davor verschloß, in welcher Lage sich Grigorij befand.
Am Nachmittag, die Sonne stand noch hoch am Himmel, begann Alexej seinen Marsch. Er wählte einen anderen Weg vom Kapellenberg hinunter als den üblichen und schritt eilig. Die angenehme Luft, das frische Grün der Bäume, das Gezwitscher der Meisen und Finken, all das belebte ihn. Er schaute munter umher. Obgleich er auf seinen Weg
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