Sanssouci
»Ich komme hier eigentlich nie her« beinhaltete aber noch mehr. Spott darüber, wie die Stadt, der Magistrat und Teile der Bürgerschaft durch Projekte wie Wiederaufbau des Schlosses oder der Garnisonkirche Anschluß an frühere Berühmtheit zu finden versuchten. Der bekannteste Satz stammte von Eisenmann, er sagt ihn bereits in der ersten Folge: »Friedrich war mal.« Der Satz war unter Oststadt-Fans seit langem ein Klassiker, man trug ihn neuerdings auf Buttons und auf T-Shirts, in der Kotz-Szene begrüßte man sich teilweise mit diesem Satz, und im Zerosaal sorgte er für minutenlange Unterbrechung durch euphorischen Jubel. Über allem lag Pöhlands Ziegengelächter.
Das Ende der Veranstaltung war, daß zwei Polizisten erschienen und den Fortgang der Aufführungunterbanden, weil eine einstweilige Verfügung vorlag. Man hatte vergessen, das Aufführungsrecht einzuholen. Besser gesagt, niemand war auf den Gedanken gekommen. Die Laienleser traten von der Bühne, andere aus dem Zuschauerraum stiegen hinauf und lasen nun selbst Textpassagen oder begannen, über das Raummikro Diskussionsvorschläge für die Demonstration zu machen. Es endete, wie es immer im Zerosaal endete, nämlich mit einer Unmenge Bier. Die Sauferei wurde anschließend umstandslos im Kotz weitergeführt. Jede Bierflasche, die sie öffneten, war für sie wie der endgültige Beginn einer besseren Welt, oder zumindest ein Ausdruck der Sehnsucht danach, und als in der Nacht die letzten Teilnehmer in ihre Betten oder auf ihre Matratzen taumelten, hatten sie alles längst schon wieder vergessen …
Auch andere Figuren, die bislang gar nicht in den Vordergrund getreten waren, suchten sich dieser Tage eine Sommerbeschäftigung, etwa Wenks AG-Hornung-Sekretärin mit Viertelstelle. Sie war eine schlanke Person, mädchenhafte Gestalt, dunkelblond, um die dreißig, in grauem Kostüm, alleinstehend. Schwarz, der Dramaturg, hatte sich mächtig in sie verguckt, obwohl sie ein Hautproblem im Gesicht hatte, das sie allerdings geschickt zu überpudern wußte. Hin und wieder traf sie den Dramaturgen, aber eigentlich interessierte sie sich für ganz anderes. Meistens saß sie im Café Heider, chattete und las Kontakte. Einmal fand sie sich, interessehalber, zu einem anonymen Rendezvous ein, obgleich sie so etwas noch nie gemacht hatte. Es war ihr erstes Mal, und sie war sehr gespannt.
Sie fand eine mädchenhafte Frau mit großen Augen und schwarzem Haar vor, deren Erscheinung fast zart zu nennen war. In ihrem Übermut und Ungestüm plauderte die Sekretärin all ihre Wünsche und Phantasien aus, die erstaunlich weit gingen und deren Erfüllung sie sich von ihrer Partnerin versprach. Merle Johansson war ebenso interessiert und unterhielt sich gern mit der Frau im grauen Kostüm, aber nach einiger Zeit wurde der kontaktsuchenden Sekretärin doch bewußt, daß hier ein völliges Mißverständnis vorlag. Trotzdem freundeten sich die beiden Frauen für ein paar Tage regelrecht an. Zwar entstammten beide vollkommen verschiedenen Milieus, aber einige Zeit war es geradezu aufregend, sich miteinander zu unterhalten, und da Merle in solchen Dingen weitreichende Erfahrung hatte, entführte sie die Sekretärin in ganz neue Welten, zumindest verbal. Merle sprach mit ihr wie ein Arzt. Sie hatte der Sekretärin nur leider von Anfang an klargemacht, daß sie all diese Dinge niemals einer Frau antun würde. Gerade das hatte sich die Frau in Grau in ihrer Sommerphantasie aber erhofft. Merle ging mit ihr auch einmal nach Sanssouci in Malkowskis Keller, weil es ihr große Freude bereitete, der Frau all die Dinge dort zu zeigen und zu erklären. Es gab sogar Maschinen. Die Frau bewunderte alles und fuhr mit ihrer Hand ehrfürchtig über die Gegenstände. Diese Begegnung veränderte die Frau in Grau nachhaltig. Sie fand es gewaltig, daß andere Menschen sich ihre Wünsche einfach so erfüllten und daß dazu einfach nur nötig war, daß man es tat, und daß dem nichts im Wege stand außer man selbst. Nach einigen Tagen emanzipierte sichdie Sekretärin von ihrer Führerin, kaufte dies und das, probierte ein wenig herum, entdeckte Neues und verschwand bald wieder aus Merles Gesichtskreis und dem Café Heider.
Noch eine andere Person aus dem letzten Kapitel verselbständigte sich für eine Weile, nämlich Dorothee Kupski, die Kulturdezernentin. Sie setzte Himmel und Erde in Bewegung, um Näheres über Heike Meurer in Erfahrung zu bringen, und suchte sie einige Tage lang fast täglich in
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