Santiago liegt gleich um die Ecke
Remscheid-Lennep. Noch knapp fünf Kilometer. O. K.: Was ist das im Vergleich zu den 20, die ich schon habe? Ich stiefele weiter. Das Problem: Nach zwei Kilometern bin ich so ausgedörrt, dass ich mich mit glänzenden Augen auf eine Viehtränke voller Algen und Pferdespucke stürzen könnte â wenn ich eine finden würde. Lieber Jakobsweg : Kann ich jetzt bitte ein Eiscafé haben â¦?
Gerade habe ich das zu Ende gedacht, da taucht vor mir eine Mini-Siedlung auf. Ich schleppe mich näher. Vielleicht zehn Häuser â und vor einem davon liegt ein Gartenschlauch! Da ⦠kommt ⦠Wasser ⦠raus ⦠Ich überlege, ob ich mich auf die Knie fallen lasse und einfach den Schlauch in den Mund halte, da tritt eine rothaarige Frau aus der Haustür â und in den kommenden zehn Minuten schwöre ich mir, nie wieder über den Weg zu lästern: Die Sache mit dem Eiscafé hat nämlich geklappt. Jedenfalls fast: Die Frau nimmt nicht nur meine Flasche entgegen, sondern bittet mich auch an einen verwitterten Holztisch vor dem Haus. »Leitungswasser oder Sprudel?« Nach einer Weile stehen auÃerdem eine Tüte Apfelsaft, ein Cappuccino und ein Riesenstück Käsekuchen vor mir. Meine Gastgeberin heiÃt Heike, ihr Mann, der sich bald dazusetzt, stellt sich als Dieter vor. Beide tragen Shirts in derselben Farbe. Nachdem ich die letzten Kuchenkrümel wie Manna aufgelesen habe, kommen wir ins Gespräch. Ãbers Wandern, über Pilger und die Gegend und überhaupt. Ehrlich: Wären mir zwei Engel erschienen, um mir zu sagen, dass das alles stimmt mit Gott und Jesus und meinetwegen Maria, es hätte mich nicht froher stimmen können:
Ohne die beiden hätte man hinter dem nächsten Hügel wahrscheinlich irgendwann meine Leiche gefunden. Ich werde die beiden wahrscheinlich nie wieder sehen. Aber unsere drei Leben sind jetzt irgendwie miteinander verknüpft.
He, der Kuchen war gut: Ich fresse wieder Kilometer! Zumindest zwei. Aber der Tacho zählt die Strecke bis Remscheid nur zäh herunter â ich weià das, weil ich alle fünf Minuten nachgucke. Die Blase unter dem Fuà brennt inzwischen wie eine Zündschnur. Heute Abend werde ich doppelt so viele Kilometer auf dem Kerbholz haben wie geplant. Irgendwann sind mir die herrlichen Trampelpfade zwischen knorrigen Weidezäunen egal. Will nur noch ankommen. Dann ist aus heiterem Himmel auch noch der Weg alle; ich darf über umgestürzte Bäume steigen, durch kniehohes Gestrüpp stapfen, an Ãsten hängenbleiben und mir die Hose an Dornen aufreiÃen. Dann geht es steil bergab. Ui â das haben meine Knie aber gar nicht gern! Und der Rucksack ist mir inzwischen mit dicken Sargnägeln auf den Rücken gezimmert. Dann endlich: Kopfsteinpflaster! Remscheid? Bist duâs? Ich klammere mich an meinen Wanderstab, um nicht auf allen Vieren kriechen zu müssen.
Mit allerletzter Kraft robbe ich in ein Hotel. Es riecht nach kalter Fritteuse und jahrhundertealtem Staub. Statt an einer Rezeption lande ich allerdings in einem Restaurant, das so leer ist wie mein Kopf vor Beyenburg; am einzigen besetzten Tisch blättert ein älterer Herr missmutig in einer Zeitung, eine Dame mittleren Alters sichtet Unterlagen. Als sie meiner Person gewahr wird, faucht sie mich an wie einen Installateur mit einer überhöhten Rechnung. » Wir haben aber geschlossen! « Erst möchte ich zurückfragen, warum denn dann bitte die Tür auf ist, dann fällt mir
wieder ein, dass ich als Pilger gelassen und weise auf derartige Situationen zu reagieren habe und darüber hinaus wirklich dringend ein Bett brauche. »Ach, Sie wollen ein Zimmer ?« Ihr Blick verliert ein wenig von seiner Härte. Mein Hotel-Zerberus zieht einen Zettel aus dem Papierstoà auf dem Tisch hervor und trägt meinen Namen mit kleiner Schrift in einem Buch ein. »Moment, was soll das eigentlich kosten?«, frage ich.
Ich beginne allmählich, mich in geschlossenen Räumen unwohl zu fühlen.
Wieder drauÃen atme ich tief durch. Sich an einem harmlosen Pilger bereichern zu wollen! Der heute über 28 Kilometer gelaufen ist, mit einer entzündeten Blase so groà wie ein Zehnmarkschein und einem Rucksack, den andere keinem Esel zugemutet hätten! 200 Meter weiter ist das nächste Hotel: In meinem Zustand sind das zwei Tagesmärsche. Egal! Diesmal rufe ich allerdings vorher an. Schon nach
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