Santiago liegt gleich um die Ecke
gelassen. Und genau an der Stelle, an der ich aus den Bergen hinabgestiegen war, ist der Bierstand vor mir aufgetaucht ⦠Durch die lange Pause ist mir allerdings etwas kühl geworden. Ich beschlieÃe, meinen Pullover herauszuholen. Als ich ihn in der Hand habe und das verschwitzte Hemd in den
Rucksack packen will, entscheide ich mich wieder anders. Und frage mich für den Bruchteil einer Sekunde, wo denn die Taste ist, mit der ich den Vorgang rückgängig machen kann. Bin wohl doch noch nicht lange genug unterwegs.
Vor Köln-Dünnwald ist der Wald plötzlich zu Ende. Mein Weg läuft jetzt entlang einer vielbefahrenen StraÃe straight auf den Rhein zu. Ich überquere die A3. Und bin auf einmal mitten in der Hölle. Fast möchte ich wieder umdrehen: unbeschreiblich viel Müll und Dreck, Reste von Gratiszeitungen im Rinnstein, eingetrocknete â nun ja: ehemalige Mageninhalte auf dem Bürgersteig, über allem ein Gestank nach Ãl und Abgasen, der einem die Nasenschleimhäute auf links zieht, dazu Millionen hetzender, schlecht gelaunter Menschen. Selbst die wenigen Bäume am StraÃenrand sehen aus, als wäre ihnen gerade das Chlorophyll ausgegangen; überall lungern finstere Gestalten herum, die aussehen, als hätten sie nicht übel Lust, so einem komischen Vogel wie mir aus Spaà mal kräftig eins auf die Mappe zu geben. Was habe ich hier zu suchen? Und ich kann mit meinem Schneckenhaus auf dem Rücken nicht einmal wegrennen! Ich denke an das friedliche Kloster, aus dem ich komme und kriege Beklemmungen wie ein Vegetarier vor einem Teller Spareribs. Ich klammere mich fest an meinen Wanderstab, beiÃe die Zähne zusammen und pilgere da durch.
Irgendwann erreiche ich trotz allem den Rhein. Meinen Wanderstab halte ich natürlich fest umklammert â¦
Mann! Ich will tief durchatmen. Aber irgendetwas schnürt mir die Kehle zu. Den Dom sehe ich nicht, es ist immer noch zu dunstig. Nachdem ich die Brücke zur Rhein-Halbinsel überquert habe, werde ich wenigstens für meine Unerschrockenheit belohnt: Unvermittelt stehe ich in einem riesigen, grünen Park; Leute grillen, Kinder plantschen, Pärchen sitzen herum und schauen den Kindern beim Plantschen zu, einzelne Typen machen es sich auf einer Mauer bequem, tippen was in ihr Handy oder gucken einfach nur auf den Fluss, der im Dunst schimmert wie ein Band aus gebürstetem Iridium. Hier, kurz vor einem kleinen Hochseilgarten, treffe ich Jacob. Er ist mindestens 15 Jahre jünger als ich, trägt kurze Haare mit einem langen, dünnen Zopf im Nacken und ist schon durch Frankreich und Nordspanien gepilgert, wie er mir sofort erzählt. »Den Küstenweg«, betont er. »Ich habe deine Jakobsmuschel gesehen, da musste ich dich ansprechen«, sagt er, »das erinnert mich daran, wie ich selbst auf dem Weg war.« Seine Augen glänzen wie zwei polierte Mondsteine, als er das sagt.
Noch vier Kilometer bis zum Dom! Irgendwie muss mir jemand bei Kilometer 15 einen Sack ReiÃzwecken in die Schuhe geschüttet haben. Auch der Rucksack drückt trotz seiner Diät wieder wie fünf Sumoringer. Wenigstens dauert es jetzt etwas länger, bis die tägliche Folter beginnt. Ich gönne mir eine Pause auf einer Bank; der Rhein hinter mir hat eine ganz leichte Brandung wie das Mittelmeer in Südfrankreich an einem windstillen Tag. Seit ein paar Minuten mache ich mir massiv Gedanken über die Stadt und mich. Warum bleibt mir bloà die Luft weg , wenn ich an Köln denke? Wieso habe ich das Gefühl, heute Nachmittag mit Knien wie aus Bauschaum zu wandern? Nach einer Weile habe ich immerhin zwei gute Gründe zusammen. Der erste liegt auf der Hand: Ich bin hier geboren. Meine Eltern haben damals in Sichtweise des Doms gewohnt. Obwohl wir schon weggezogen sind, als ich vielleicht sechs Jahre alt war, habe ich hier doch ein paar schöne Jahre verbracht. Ich komme also nach Jahren des Exils nach Hause. Und irgendwie ist es eine ganz andere Hausnummer, ob man dazu aus dem klimatisierten Auto steigt oder sich zu Fuà hierhin quält. Der zweite Grund hängt damit zusammen, ist aber etwas diffiziler: Ich kenne Köln ziemlich gut. War schon tausendmal hier. Nur halt mit dem Auto. So dass ich die Orte, die ich bisher durchquert habe, zumindest dem Namen nach kenne: Herdecke, Wuppertal, Remscheid, Altenberg â im Prinzip alles alte Bekannte. Aber hinter Köln kenne ich nichts
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