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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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mehr. Da beginnt Neuland für mich. Terra Incognita ! Es ist ein bisschen so, als ob ich mit meinen 42 Jahren zum ersten Mal die Flügel spreize, wenn ich diesen Ort verlassen werde. Wenn ich morgen aufbreche, geht die Wanderung erst richtig los.

    Ich sehe den Dom! Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet! Auch der Dunst lichtet sich langsam. Mit jedem Schritt sehe ich die Riesenkirche ein wenig deutlicher. Auf der Hohenzollernbrücke muss ich ein wenig schlucken. Hier sind sie tatsächlich, die vielen Schlösser, von denen ich bei Werner gelesen hatte! Wann war das? Vor zwei Wochen? Zehntausende, an dem Gitter befestigt, das den Fußgängerüberweg über den Rhein von der Bahntrasse trennt. Ich streiche mit der Hand über einige davon. Sie sind gar nicht kalt. Es gibt Schlösser in allen Größen und Ausführungen: Mit dickem Bügel, mit dünnem, groß, klein, neu, alt, die meisten gold, viele rot, manche blau, schwarz oder sogar lila. Auf jedem stehen Dinge wie »Für immer und ewig ABUS« oder »14.2.09 ein Symbol unserer Liebe Börkey Nadine + Thorsten«. Und der Grund des Rheins dürfte hier übersät sein mit Schlüsseln. Ich sehe viele Leute, die mit versonnenem Blick innehalten. Fast jeder nimmt eins der Schlösser in die Hand, um es sich genauer anzusehen. Ein Rätsel ist mir allerdings, nach welchen Gesetzmäßigkeiten diese Dinger verteilt sind. Manche hängen vereinsamt an fast leeren Gittersegmenten, andere bilden regelrechte Cluster – an diesen Stellen kommen rasch Hunderte zusammen. Ich frage mich, wo ich meins hinhängen würde. Vor zwei Wochen wäre das sonnenklar gewesen. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.
    Nur noch wenige Meter! Ich muss den Kopf inzwischen ein wenig in den Nacken legen, um den Dom in voller Größe zu sehen. Die Glocken läuten! Voller heiliger Energie stürze ich ins Domforum und hole mir meinen Pilgerstempel ab. Hinter mir schließen sie den Laden ab. Punktlandung! Obwohl Ostermontag ist, platzt die Stadt fast vor Menschen. Der Dunst ist jetzt völlig verflogen. Fast habe ich das Gefühl, dass
jemand extra für mich ein Tuch von der Kathedrale zieht. Ich spreche einen der 10.000 Leute mit Kamera an. Er macht ein Bild von mir; auf dem Foto kann ich später seinen Finger erkennen. Dann gehe ich auf das Petersportal zu. Ich suche den Stein-Jakobus und finde ihn tatsächlich sofort: Der Apostel ist eine der verwittertsten Figuren überhaupt. Egal: Die Skulptur erinnert mich an eine Art Gelübde, das ich in Herdecke getan habe: Ich hatte Indes Berger versprochen, dem ersten Bedürftigen, den ich treffe, etwas Gutes zu tun – als Ersatz für die Zimmermiete, die sie mir nicht abnehmen wollte. Nun, der Bedürftige sind gleich zwei – sogar direkt unter meinem Jakob: Freundliche Obdachlose mit jeweils einem Pappbecher vor den Füßen. Ich reiche einem von beiden einen Schein. »Teilen? Nee, mach’ ich, klar. Ich kann aber auch rausgeben …« Er sieht mich an, als möchte er als nächstes fragen, ob ich eine Quittung will. Sein Kollege kommt rüber und bedankt sich, noch bevor er seinen Teil bekommen hat. Das wundert mich. Und auch wieder nicht.
    Auf die eigentliche Mission »weiche Knie« mache ich mich aber erst jetzt. Ich trete aus dem Glaskasten hinter dem Domportal. Ich würde den Dom blind erkennen – und fühle mich ein wenig, als müsste ich mit einem 42 Jahre alten Oldtimer zum TÜV. Es ist Gottesdienst. Die Sitzbänke sind voll, die Dom-Diener in ihren roten Roben und der Klingelbüchse vor dem Bauch lassen nur Gläubige durch. Keine Ahnung, woran sie die erkennen, aber manche Leute werden zurückgewiesen, andere dürfen nach einem leichten Nicken passieren. Die, die nicht reindürfen, suchen sich einen Platz vor der Absperrung, machen sachliche Gesichter und heimlich Fotos. Ich stelle mich dazu, genau in die Mitte des Hauptschiffs, in direkter Flucht zum Altar. Stütze mich auf meinen Stab. Die
Orgel erinnert die Leute an ihre kleine, unbedeutende Seele, alle singen. Dann geht es los. Erst muss ich ein wenig schlucken, bleibe aber eisern stehen. Dann – sagen wir: werde ich ein wenig emotional. O. K.: Immerhin habe ich mich fast 150 Kilometer quasi auf blutenden Füßen hierhin geschleppt und bin auf dem Weg fast verreckt, da kann man sich sowas schon mal erlauben! Ein Typ mit roter

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