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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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Übrigen«, meint meine Frau, »bricht man so ein Projekt nicht wegen sowas ab.« O. K. – nicht, dass ich gehofft hätte, dass sie mit wehenden Haaren ins Auto springen und mich in null Komma nix abholen würde … trotzdem fühle ich mich wie ein Kind, das von seiner Mutter zurück in den Sandkasten geschoben wird, kurz nachdem ihm der beste Freund dort eine Schaufel über den Schädel gezogen hat. So ganz überzeugt bin ich noch nicht. Aber nach ein paar Minuten und ein paar weiteren Telefonaten mit Freunden verstehe ich manches besser.
Vor allem begreife ich allmählich, dass ich zwar jederzeit aufgeben kann. Aber nicht jetzt . Ich muss mindestens bis Köln kommen. Zur Not robben. In die Stadt, die mir neulich solche Kopfschmerzen gemacht hat.

    Vor dem Kloster fragt mich eine Frau nach dem nächsten Parkscheinautomaten. »Keine Ahnung. Ich bin Pilger. Ich bin zu Fuß hier«, sage ich. Später fällt mir auf, dass ich mich soeben das erste Mal ausdrücklich als Pilger bezeichnet habe. Im Märchenwald, den ich auf einem Bein hüpfend erreiche, wobei mich aus heiterem Himmel ein Krampf im Bauchmuskel in der Mitte zusammenfaltet – aha, also wirklich Magnesiummangel! – stürze ich mich auf die Speisekarte. Ich falle fast auf die Knie, als mir der Kellner eröffnet, dass die Tagessuppe ausgerechnet eine kräftige »doppelte« Rindfleisch-Kraftbrühe ist. »Dä! Der Weg! «, denke ich. Während ich den zweiten Teller in mich hineinlöffele, beobachte ich die Leute, die rund um mich herum an ihren Tischen hängen. Mir fällt auf, wie viele von ihnen mit langen Gesichtern herumsitzen, sogar junge Eltern mit Kindern. Manche gucken an ihren Sprösslingen vorbei ins Leere. Sie sehen aus wie Zu-kurz-Gekommene, die der ganzen Welt böse sind. Wenn sie wüssten, dass eine Schale schlichte Suppe zum Glück reichen kann … Oder zwei, O. K.

    Am frühen Nachmittag mache ich mich noch einmal auf. Vor meinem Zimmer flanieren massenweise Touristen. Sie kommen aus einer anderen Welt, zu der ich trotz allem noch nicht wieder gehöre. Ich besuche ausnahmsweise eine kleine Kapelle auf dem Klostergelände und höre den Kerzen dort eine Weile beim Flackern zu. Am Hintereingang des Domladens entdecke ich eine Bank. Setze mich eine Weile. Mir gegenüber steht ein Engel aus rostigem Blech. Seine Flügel sind größer als er selbst. Eine Freundin meinte vorhin am Telefon, das seltsame Gefühl, gestern mit den Flügeln geschlagen zu haben, wäre mein Schutzengel gewesen. Sei’s drum … Auf dem Rückweg in meine Zelle entdecke ich die gelbe Muschel auf blauem Grund an einer Laterne – das Pilgerzeichen. Es setzt mir einen leisen Stich. Mir wird klar, dass es mir fehlen würde, wenn ich jetzt wirklich aufgebe.
    Meine Sachen, die ich in die Sonne gehängt habe, trocknen gut. In meinem Zeh juckt und klopft es allmählich wieder. Ich habe auch wieder Hunger. Ich spreche die Köchin an. Leider ist sie nur eine Aushilfe und kennt sich in der Küche nicht aus – klar, habe mir ja den Ostersonntag für meine Auferstehung ausgesucht, da haben alle anderen frei. Die Dame hat rote Wangen, wirkt aber untröstlich, weil sie mir nicht helfen kann. Ich setze mich an meinen Pilgerplatz und stochere in etwas Kartoffelsalat, der mir so fade vorkommt wie eine Schale Kleister. Am Nachbartisch wird schon wieder gesungen: Diesmal sind es allerdings keine Schüler, sondern etwa ein Dutzend älterer Damen und ein paar ebenso betagte Herren, offenbar verdiente Glieder ihrer Heimatgemeinde auf Bildungsreise. Eine der Damen kommt auf mich zu und wünscht mir viel Erfolg bei meinem Weg. »Nach Köln? Da nehmen Sie am besten die S-Bahn«, sagt sie. »Es ist ein bisschen verstörend, wenn man aus dem Wald kommt und dann in diese Abgase gerät.
Das sollten Sie sich nicht antun.« Dankeschön! Aber da wird nicht verhandelt! Wenn ich schon weitermache, will ich mir die Stadt erobern, da kann ich nicht kneifen, nur weil die Luft dicker wird. O. K. – ein kleines Zugeständnis gönne ich mir: Ich rufe schon einmal in einer Unterkunft an und reserviere ein Zimmer. Nach 20 Kilometern on the road mit Füßen wie aus Marmelade durch Köln zu irren muss ich mir nicht auch noch antun. Mal abgesehen davon, dass ich keinen Schimmer habe, wie ich morgen 20.000 Meter – fast 30.000 Schritte! –

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