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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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Jack-Wolfskin-Jacke und Brille, Studienrat-Bärtchen und Bauchansatz klopft mir auf die Schulter und macht ein »Daumen-hoch«-Zeichen, während ich mir ein Tempo aus der Tasche ziehe.
    Sieh’ dein Leben doch einfach als spannenden Roman, in dem du zufällig mitspielst. Was kann schon passieren?
    Für den Weg zu meiner Unterkunft lasse ich mir viel Zeit. Als ich angekommen bin, gratuliere ich mir zu meiner Wahl: Was für ein nobles Haus! Marmor und bequeme Sessel, Teppiche – alles glänzt und funkelt, der Mann an der Rezeption strahlt eine leicht felixkrullige Arroganz aus. Und das für 15 Euro! Nicht übel! An einer Glastür lese ich »Freut Euch« — dabei steht da »Rauchfrei«. Als ich im vierten Stock aus dem Aufzug trete, tritt mich allerdings ein Clydesdale: Ich bin in der DDR! Blutroter Teppichboden, hier und da mit leeren Tüten verziert, überquellende Müllcontainer — an einem läuft Schmock herunter, der fast lebendig aussieht –, daneben Beutel, bis zum Platzen vollgestopft mit Abfall. Die Kochplatten in der Gemeinschaftsküche, die mit ihrem verkachelten Charme aussieht wie ein Sado-Maso-Hobbyraum, sind von verkohltem organischen Material eingefasst; überhaupt sieht der Herd aus wie ein Alien-Seziertisch. Der Münzeinwurf, der den Strom einschaltet, wirkt, als wäre man nicht einmal mehr als Organspender zu gebrauchen, nachdem man ihn benutzt hat. Aus der Holzverschalung der Duschkabinen-Decken rieseln Spinnweben und wer
weiß was noch. Das muss die Kulisse zu einem Horrorfilm sein! Das seltsamste aber: Ich finde mein Zimmer nicht . Irgendwann nehme ich allen Mut zusammen und nähere mich der Tür zum einzigen Raum, der keine Nummer trägt. Der Schlüssel passt. Darin finde ich: ein Bett, auf dem zerknüllte, dreckige Bettwäsche liegt, etwa auf Kopfkissenhöhe geschmückt von einem dunklen Fleck undefinierbarer Herkunft, daneben ein Wäschewagen, gefüllt mit Textilien unbekannten Pflegestatus’. Im Waschbecken — nur kaltes Wasser — steht noch eine Handbreit Flüssigkeit, der Boden des Raums ist vermutlich etwa seit Honeckers Tod nicht mehr gewischt worden. Mein erster Impuls ist: nach Hause, aber schnell! Aber dann will ich es plötzlich wissen: wie es sich anfühlt, in so einem — äh: Zimmer zu übernachten. Schließlich bin ich nicht unterwegs, um Fünf-Sterne-Hotels kennenzulernen! Und vielleicht kann ich das hier ja nutzen, um mich an Schlimmeres zu gewöhnen. Und leise, ganz leise, klopft noch ein witziger, kleiner, aber sehr weiser Gedanke bei mir an: »Sei nicht so eitel. Sieh’ dein Leben doch einfach als spannenden Roman, in dem du zufällig mitspielst. Was kann schon passieren?«
    Ich beschließe kurzfristig, mir die Unterkunft schön zu trinken. Schleiche zum Bahnhof, wo ich eine Flasche Wein und mehrere Liter Mineralwasser erstehe. Zurück im Zimmer suche ich dann nicht nur einen Papierkorb vergebens — auch zu einem Glas haben die Kostenrechner hier sich nicht durchringen können. Ich fasse zusammen: Ich liege in einer billigen Absteige in Unterwäsche auf einer fleckigen Matratze und trinke Rotwein vom Bahnhofskiosk aus der Flasche. Gut, dass ich das freiwillig mache! Nachts höre ich Leute auf den Fluren quatschen und lachen und sich gegenseitig Gigabytes an Musik vorspielen. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen: Schön, dass es den Leuten hier trotz allem gut geht.

»Je eher du gehst …« – oder: Aus der Heimat nach Hause
Dienstag, 14. April 2009 – Köln bis Brühl
    Mein Gott, was für ein Kater … Ich gieße den Rest der Flasche ins Waschbecken. Etwas zerknittert stehle ich mich in die Dusche gegenüber. Das Schild »Nur für Frauen« ignoriere ich – der Portier meinte gestern, das hätte nichts zu sagen. Ich hoffe, dass das auch alle anderen hier wissen. Die Wände der düsteren Duschkabine kommen mir seltsam glitschig vor – und das bestimmt nicht von Seife, die würde sich nämlich abspülen lassen. Und mein Fußpilzspray liegt jetzt in Altenberg! He — ob’s hier Legionellen gibt? Ich beiße die Zähne zusammen, atme so flach wie ein asthmatischer Braunbär im Winterschlaf und bringe die Sache so schnell wie möglich hinter mich. Den heißen Warmwasserhahn erkenne ich übrigens an der signifikant dickeren Kalkkruste. Als ich meinen Schlüssel

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