Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
Vom Netzwerk:
der angeblich so komische Dinge von uns verlangt, wie von unseren schönen Geschlechtsorganen nur einen arg eingeschränkten Gebrauch zu machen. Trotzdem macht es ja durchaus Sinn, etwas zu glauben: Das sagt ausgerechnet das Gedankengebäude, das hinter der Evolutionstheorie steckt – auch wenn viele das Gegenteil denken. Ich bin mir sicher, dass der Glaube an etwas Höheres in erster Linie eine Art Nebenprodukt des Ursache-Wirkungs-Denkens ist, das unseren Vorfahren in einer entscheidenden Etappe unserer Entwicklung half, zum Beispiel einen dunklen Himmel mit bevorstehendem Regen zu verbinden — aber dummerweise eben auch einen Blitz mit irgendjemandem, der ihn geworfen haben muss.
    Außerdem hält der gemeinsame Glaube an einen himmlischen Häuptling eine Gruppe zusammen – und Gemeinschaft ist nun mal wichtig, um sich in einer feindlichen Umwelt zu behaupten. Darum haben wir heute den Drang, etwas zu glauben, und leider auch, Glaubensinhalte gegenüber anderen zu verteidigen. Das eigentliche Dilemma des Menschen ist also, dass es sehr wahrscheinlich keinen Gott gibt und wir trotzdem von Geburt an so angelegt sind, dass wir dennoch an ihn glauben müssen .
    Mitten in diesen Überlegungen komme ich an einem Brunnen vorbei, aus dem ich nicht trinken darf: Kein Trinkwasser , steht da. Ein materielles Echo meiner seltsamen Gedanken. Etwas später rette ich einen auffälligen Falter, der es sich auf einem Bürgersteig bequem gemacht hat. Wie der auf die Idee kommt, dass ihn auf den grauen Steinen niemand sieht? Tja, Evolution kann eben auch schiefgehen … Ich nehme das Insekt vorsichtig auf und setze es woanders hin. Ein älteres Paar nutzt die Gelegenheit, um mit mir ins Gespräch zu kommen: Eine Frau und ein Mann namens Werner. Schon wieder ein Werner! Egal: Auch sie sind durch die Muschel an meinem Rucksack neugierig geworden. Werner erzählt, dass er den Weg auch einmal gehen will – nur so recht trauen tut er sich noch nicht. Dabei hat er schon einem Krebs die Stirn geboten! Werner wirkt auf mich wie ein junger Vogel, der sich auf dem Nestrand schon einmal warm läuft, bevor er springt: Seine Augen glänzen wie die Morgensonne in einem Bergsee, als er mir von seiner Idee erzählt. Ich bin sicher, dass er irgendwann aufbrechen wird. Zum Abschied gibt er mir noch einen Tipp mit auf den Weg: »Unter der Woche haben die Hotels in der Eifel alle zu. Da ist man auf die größeren Orte angewiesen«, meint er. Ich klopfe auf das Zelt, das unter meinem Rucksack baumelt.

    Irgendwann komme ich an einem Haus vorbei, das deutlich älter aussieht als die anderen im Ort. Plötzlich
werden meine Schritte langsamer: An der Hauswand steht ein großes, dunkles, offenbar verdammt altes hölzernes Kreuz, in das äußerst eigenartige Symbole geschnitzt sind: Hände, Kelche, ein Hahn, ein Herz (!), Zange und Hammer und einiges, das ich gar nicht erst identifizieren kann. Das Ding wirkt düster und geheimnisvoll wie eine Pyramiden-Inschrift. Erstaunlicherweise fällt mir jetzt ein, dass ich genau dieses Kreuz am Ortseingang schon einmal gesehen habe – aus hellem Holz, mit erklärender Tafel daneben. Schon wieder ein Echo! Das mit dem Ignorieren von Wegkreuzen hat also doch nicht so geklappt … Ich habe die dunkle Ahnung, dass das Ding eine sehr spannende Geschichte erzählt. Jetzt ärgere ich mich, dass ich bei der Kopie am Ortseingang nicht angehalten habe.
    Ich wandere weiter, lasse einen Supermarkt, den Werner mir gezeigt hatte, links liegen und passiere nach einem kleinen Aufstieg einen Friedhof mit einem weiß getünchten Bauwerk, das an eine Windmühle ohne Flügel erinnert: den sogenannten Hexenturm. Laut Hinweistafel ist das Ding aus Steinen des Aquädukts errichtet, an dem ich gestern entlanggewandert bin. Noch etwas weiter oben pflegt eine Frau ein frisches Grab. Unsere Blicke begegnen sich. Irgendwie verpasse ich danach wieder eine Abzweigung. Es ist heiß geworden, und ich beginne mich zu ärgern, dass ich mir den Supermarkt geschenkt habe. Durstig wie ein vertrockneter Tannenzapfen stapfe ich weiter.
    Â»Hallo? Sind Sie ein Jakobspilger? « Hinter einer dichten, zwei Meter hohen und burgmauerdicken Gartenhecke raschelt es; jemand öffnet eine Tür, die tief in dem Wall verborgen ist; eine grauhaarige Frau explodiert förmlich aus dem Laub. Sie trägt eine blaue Schürze und sieht aus, als könne sie

Weitere Kostenlose Bücher