Santiago liegt gleich um die Ecke
Fremdkörper. Aber einer, der dazugehört. Für diese Erkenntnis würde ich noch einmal 170 Kilometer wandern!
Die nächsten Kilometer verbringe ich damit, mein neues Heimatgefühl zu genieÃen. Dann geht es in einen schönen, stillen Park, dann durch eine pittoreske Innenstadt, bunt vor Menschen, die in Cafés sitzen, durch die gemütliche FuÃgängerzone schlendern, die wie ein Sofa wirkt, oder einfach nur in die Nachmittagssonne ihr Lächeln funkeln lassen â und plötzlich stehe ich vor dem Schloss Augustusburg. Es sieht aus, als hätte es eben erst jemand im Vorbeischlendern dort fallen gelassen; das Gebäude ist in einem warmen
Gelb gestrichen und leuchtet in der Abendsonne wie ein Klotz aus Gold. Trotzdem wird es allmählich Zeit für eine Couch. Eine Dame in der Touristen-Info nennt mir ohne viel Federlesens eine günstige Unterkunft ganz in der Nähe und drückt mir einen unbeschreiblich hässlichen Abdruck in meinen Pass, weil ich für den richtigen Pilgerstempel wieder einmal zu spät dran bin: »Brühl-Info« in fetten, schwarzen Buchstaben, die schreiend aus den 80er-Jahren geflohen zu sein scheinen â von nun an der Schandfleck in diesem Dokument.
Immerhin: Auf meinem Zimmer gibt es warmes Wasser. Ich bereite die übliche T-Shirt-Hosen-Socken-Suppe im Waschbecken zu, falle ins Bett und ziehe mir für ein paar Minuten die Decke über den Kopf. Als ich eine halbe Stunde später aus dem Koma erwache, ist die Stadt, die vorhin noch zum Platzen voll war, so leer, als wäre zwischenzeitlich ein Pestarzt durchgerannt. Ich ziehe mich an, hinke nach drauÃen, finde einen Supermarkt und kaufe ein paar Dinge. Vor dem Laden begegnet mir ein junger Türke im Rollstuhl, der seine Umgebung mit lauter Musik aus einem Kofferradio erfreut â seltsamerweise mit absolut skurrilem elektronischen Zeug, Berliner Schule, genau mein Geschmack! Der Junge starrt mich an. Ich starre ihn an. Die Szene erscheint mir surreal wie ein jodelnder Konzertflügel in einem Korallenriff.
Als ich später vor WeiÃbier, Schweizer Schnitzel und Rösti sitze, rollt der Junge noch ein paar Mal vorbei und spielt die schwermütigen arabischen Weisen, die ich von ihm erwartet hätte. Vielleicht wollte mir der Weg auf diese Weise zeigen, dass ich hier willkommen bin, denke ich. Oder werde ich jetzt paranoid? Als ich später am Abend meine Frau anrufe, erkennt sie mich zunächst nicht.
»Oh Gott, was soll ich hier?«
Mittwoch, 15. April 2009 â Brühl bis Weilerswist
Alles trocken, sogar ohne Heizung! Geht doch! Nur die Socken fühlen sich an, als hätte ich damit heute Nacht irgendjemandem beim Keltern geholfen. Und die blöde Blase unter meinem FuÃ: Ist das vielleicht Verwesungsgeruch? Ich decke mich im Ort mit Desinfektionsspray und Zinksalbe ein und besorge gleich auch noch frisches Duschgel â habe wohl doch etwas zuviel in Altenberg gelassen. Heute Morgen ist in Brühl mehr los als gestern Abend. Die Sonne streicht über die Fassaden der Stadt wie die Hand eines stolzen Sammlers über Perlmutt-Tabaksdosen; der Himmel ist blau wie ein alter Zehnmarkschein. Und ohne jede Wolke. Es ist Markt, ich beobachte Leute an einem Gemüsestand und vor dem obligatorischen fliegenden Händler mit einem ganzen Bauchladen voller Hightech-Putzwunder. Immer noch habe ich das schöne Gefühl, zu Hause zu sein. Aber Köln steckt mir trotzdem noch in den Knochen â¦
Ich entscheide spontan, meine heutige Etappe nach Euskirchen â immerhin 28 Kilometer â erholungshalber in zwei handliche Teile aufzuknacken. Weilerswist wird auch O. K. sein: klingt für meine Ohren nach stundenlangem, gemütlichem Flanieren vor historischer Kulisse und Cappuccino in lauschigen StraÃencafés. Schwierigkeitsgrad: Leicht! Das muss für heute reichen. Aus Brühl bin ich schnell raus, ist ja nicht Köln; hier und da fallen mir ein paar Wegkreuze auf, aber ich übersehe sie geflissentlich. SchlieÃlich hatte ich mir vorgenommen, noch lange nicht an jeder Kapelle anzuhalten, nur weil ich auf dem Jakobsweg bin; Wegkreuze zähle ich mal dazu, Dome müssen reichen.
Trotzdem mache ich mir schon wieder Gedanken über Gott und die Welt. Religionen sind ja etwas sehr Seltsames: Es gibt keine einzige vernünftige Begründung dafür, dass man an so etwas Ungreifbares wie einen Gott glauben sollte â zumal an einen,
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