Santiago liegt gleich um die Ecke
â einer ruft mir »Respekt!« hinterher. Das ist mal ein anderes Kaliber als die beiden, die mich gestern am Rhein allen Ernstes gefragt haben, wie ich denn meinen Stock »gemacht« habe! In einer hübschen kleinen Grünanlage auf dem Gelände eines ehemaligen Schlosses mache ich eine Pause. Einer der ehemaligen Besitzer des Bauwerks, das 1964 im Rahmen einer Feuerwehrübung (!) niedergebrannt wurde, soll vor fast 150 Jahren einen damals recht bekannten Jakobs-Pilgerführer herausgegeben haben. Als ich mich gerade auf einer Bank niedergelassen und die Schuhe ausgezogen habe, kommen zwei zehnjährige Jungs angeturnt und balancieren über ein paar Felsen, die vor mir in einer runden Einfassung aus groÃen Steinen liegen. Einer der beiden kommt aus dem Gleichgewicht und berührt den Boden. »Du hast ein Leben weg«, sagt der eine. »Nee, ich machâ nur das nächste Level fertig«, sagt der andere und legt schnell ein Holzbrett zwischen zwei Felsen.
Ich habe kurz das komische Gefühl zu wandern, um wegzulaufen ...
An einer Tankstelle â stilecht mit einer groÃen Jakobsmuschel im Logo â ergänze ich meine Flüssigkeitsvorräte. Der Typ an der Kasse fragt mich allen Ernstes, ob ich »beruflich unterwegs« sei. Danach
zieht sich der Weg ein wenig. Ich habe Zeit, nachzudenken und ganz kurz das komische Gefühl zu wandern, um wegzulaufen , und nicht, um irgendwo anzukommen . Mache ich was falsch? Auf den letzten fünf Kilometern jeder Etappe, wo jeder Schritt zur Quälerei wird, ist mein Kopf so leer wie eine Karstadt-Tiefgarage um drei Uhr morgens. Zu Weihnachten. Und die wenigen Gedanken, die bleiben, beschäftigen sich eher mit der StraÃenbeschaffenheit, mit den FüÃen, mit dem verdammten Rucksack und mit der Frage, wie ich meine Sachen diesmal wohl trocken bekomme. Um die Seele mal von der Leine zu lassen, damit sie ein paar hehre, strahlende, schöne Ideen einfängt, bin ich dann viel zu erschöpft. Da fällt mir die Geschichte von diesem Zen-Meister ein, der einen seiner Schüler so lange seine Reisschale putzen lässt, bis dieser plötzlich erleuchtet wird. Aber trösten kann mich dieses Gleichnis nicht so recht.
Am Nachmittag zeigt sich der Weg wieder von seiner abwechslungsreicheren Seite. Manchmal geht es StraÃen entlang, dann über Feldwege. Grunzend satte, grüne Wiesen, blühende Bäume, nur einmal sehe ich am Horizont eine Mietskaserne, die ungefähr so gemütlich aussieht wie der Todesstern. Gärten und Pferdeweiden, ab und zu lugt ein hübsches Türmchen aus dem Dunst. Irgendwann grüÃt mich ein Ortsschild: Brühl! Nur noch ungefähr dreieinhalb Kilometer! Meine FüÃe glimmen wieder wie Zigarettenasche, die man in einen Karton Watte fallen lässt, aber das bisschen schaffe ich auch noch! Allerdings verliere ich allmählich Speed. Irgendwas lässt mich langsamer gehen. Komisch: Brühl ist typisch für den Speckgürtel um Köln. Alles ist schmuck und gepflegt, vor jedem zweiten Haus steht jemand, um ein Schwätzchen zu halten, Laub zu fegen oder Fenster zu putzen; zu fast jedem könnte ich mich dazustellen.
Es ist aber auch das Wetter dazu: warm, aber nicht heiÃ, die Art von Nachmittag, an der man sich schon auf dem Weg nach Hause auf das erste Durchatmen im Garten freut, ohne in Eile zu geraten, die Aussicht auf einen relaxten Abend unter einem dunkelroten, milden Himmel im Kopf. Fast alle Männer tragen einen Vollbart. Ich frage einen Typen, der sich mit einer groÃen Schere an einer Hecke zu schaffen macht, was das »BM« auf den Autokennzeichen bedeutet â irgendwann unterwegs sind mir die »K« (für Köln, die Red.) ausgegangen. Bergheim, erfahre ich. »Das ist die Kreisstadt hier«, sagt der Mann. Das heiÃt: Er sagt es nicht, er lacht es unter seinem Bart hervor! Plötzlich trifft mich der Schlag. Aus heiterem Himmel wird mir etwas Wichtiges klar: Erstens: Köln hat hier keine Macht mehr über mich! Zweitens: Ich bin zwar in Köln geboren. Aber aufgewachsen bin ich in einem Ort wie diesem. Diese Erkenntnis fährt mir jetzt wie warmer Kaffee in die Adern ⦠In der Domstadt war ich all die Jahre nur zum Einkaufen. Darum also kommen mir die Menschen hier so sympathisch vor! Ich bin einer von ihnen! Sie zahlen in einer Währung, die ich rausgeben kann. O. K., mit meinem Pilgeroutfit bin ich auch hier ein
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