Santiago liegt gleich um die Ecke
zwei meiner Rucksäcke tragen. Hinter der Hecke liegt ein schmucker, gepflegter Garten. Und ich bin schon wieder unter
Ex-Pilger geraten: Meine Gastgeberin war schon in Santiago, vor zehn Jahren. »Wir haben damals in einem Kirchenmagazin von dem Weg gelesen und uns gedacht: Das machen wir auch mal. Zuerst sind wir mit dem Rad hin. Später dieselbe Strecke nochmal gewandert«, sagt sie, und mir fällt auf, dass man aus ihrem Lachen glatt zwei machen könnte. Während wir reden, kommt ein braungebrannter Mann dazu, der ganz bestimmt Louis Trenkers Bruder ist â mit Waden wie aus Beton gegossen. »Mein Mann ist damals sogar von hier aus losgelaufen â¦Â« Trenker zwo hat einen Händedruck wie eine chinesische Stahlpresse und schüttelt in den kommenden Minuten lässig ein paar Etappen seines Wegs aus dem Ãrmel. Ich bin neidisch.
»Als wir in Finisterre waren, wären wir am liebsten noch weiter gelaufen â¦Â«, schlieÃt er seinen Bericht. Seine Frau hat sich in der Zwischenzeit ins Haus empfohlen, aus dem sie nun mit einem unglaublich kühlen Kölsch, einer bis zum Rand gefüllten Feldflasche und vielen guten Wünschen für den Weg wieder heraustritt. Und natürlich einer genauen Beschreibung, die mich an die Stelle zurückführen soll, an der ich vom Weg abgekommen bin. Naja: Ob ich mich tatsächlich verlaufen habe, weià ich gar nicht â schlieÃlich wäre ich nicht bei diesen freundlichen Leuten mit ihren köstlichen Kölschvorräten gelandet, wenn ich an der entscheidenden Stelle besser aufgepasst hätte! Tja, die wahren Schätze liegen eben am Wegesrand , fällt mir wieder ein ⦠Vielleicht sollte ich Dinge öfter mal einfach geschehen lassen. Kann doch sein, dass hinter der nächsten Ecke um so spannendere Begegnungen lauern â¦
Zum Abschied darf ich feststellen, dass auch die Dame des Hauses einen bemerkenswert festen Händedruck hat. Allmählich verdichtet sich das Bild: Alle Pilger, die ich bisher getroffen habe, waren besondere
Menschen. Ob der Weg sie dazu macht? Oder neigen starke Persönlichkeiten bloà eher dazu, diese Wanderung überhaupt anzugehen? Traut man sich nur dann unter die Muschel, wenn man von Haus aus sowieso eine gewisse Offenheit mitbringt? Oder kann man als verschrobenes Arschloch losgehen und doch als Heiliger zurückkehren? Komisch auf jeden Fall, dass mir der Weg innerhalb von wenigen Minuten sowohl einen »Vielleicht«-Pilger als auch zwei Exemplare der Spezies »Ich-war-schon-da« vor die FüÃe spült. Und ich befinde mich ziemlich genau zwischen diesen beiden Polen. Mann, ist das spannend: Irgendetwas passiert gerade mit mir. Ich kann förmlich spüren , wie ich immer neugieriger werde! Und wie mir dieses Gefühl eine seltsame Kraft verleiht!
Vielleicht sollte man Dinge öfter einfach geschehen lassen.
Nach einer Weile geht es wieder an Pferdeweiden entlang, auf denen Bäume stehen, die blühen, als wäre darunter ein Sack rosa Konfetti geplatzt, dann stehe ich wieder im Wald â etwa die Hälfte der Strecke bis Weilerswist habe ich also abgehakt. In regelmäÃigen Abständen finde ich Stapel frischer Holzscheite am Wegesrand. Einem sehr spontanen Impuls folgend greife ich mir einen und rieche daran. Und erlebe, dass mir jemand in Zeitlupe auf die Nase haut! Was ist das denn? Dass der Klotz nach Holz riecht â damit hatte ich natürlich gerechnet. Aber als ich die Luft einsauge, registriere ich nicht nur den Duft selbst, sondern merke, wie er sich allmählich aufbaut, wie er mit dem Einatmen an Intensität gewinnt, im Moment des Höhepunkts der Atembewegung, wenn die Luft eine Weile, eine tausendstel Sekunde vielleicht, in der Nase stehenbleibt, eine völlig neue Qualität gewinnt und sich dann, mit dem Ausatmen, erneut verändert und allmählich abklingt wie ein stiller Diener, der rückwärts aus dem
Raum schreitet. Wow! Was für ein Kosmos tut sich denn da auf? Als ob ich in einen warmen, tiefgrünen Ozean getaucht wäre und plötzlich merke, dass ich unter Wasser atmen kann! Wie schwer fällt es mir zu Hause, Gerüche wahrzunehmen! Wenn ich zum Beispiel die Balkontür öffne und eine Nase Frühlingsduft erhaschen will â rieche ich meist erst einmal gar nix, dann habe ich irgendwann eine Ahnung, dass da ein Duft sein könnte , und dann ist es schon wieder weg. Und jetzt eröffnet
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