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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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sich mir in diesem einfachen Holzscheit eine ganze Welt! Auf dem Rest des Weges greife ich mir immer wieder Dinge, Blüten, Blätter, Steine, und rieche daran. Ich halte meine Nase an Bäume, Hinweistafeln und Laternenmasten – so ein Erlebnis wie mit dem Holzscheit ist mir aber nicht mehr vergönnt. Vielleicht kann man’s ja auch nicht erzwingen — wie so vieles andere.
    Ich rieche jetzt immer mehr: alle Schattierungen von Straßenstaub, Blumen, in Vorgärten gemähtes Gras …
    Hinter dem Swister Türmchen, dem letzten Rest einer längst eingestürzten, ehemaligen Wallfahrtskirche, ist die Waldidylle vorbei. Es geht einen kleinen Pfad bergab, der von ein paar knorrigen Kopflinden gesäumt wird. Jetzt noch schnell unter der A61 durch, dann bin ich da! Aaaaargh: Blöderweise ist ausgerechnet der Tunnel, der mich unter der Autobahn durchführen soll, gesperrt, vergittert, zu! Da kommt nicht mal David Copperfield durch – und die Angelegenheit wird auch nicht viel erfreulicher durch das alte Sofa, das irgendein Scherzkeks vor dem Hindernis abgestellt hat. Ich komme mir vor wie ein Pilger vor 500 Jahren, der vor einer weggeschwemmten Brücke steht und jetzt einen Tagesmarsch bis zur nächsten Fähre vor sich hat. O. K., bei mir sind es nur etwa 400 Meter bis zur Hauptstraße, aber der Gedanke an bleihaltige Luft macht mir die Füße ebenso schwer und
weich wie dieses Metall. Aber ich habe Glück: Auf dem Weg zur Straße laufe ich mitten in ein Meer aus Holzaroma, bald schwimme ich darin wie ein Heißluftballon in der Abendluft: Arbeiter versehen den Mittelstreifen der Straße mit frischem Mulch. Wie das duftet! Fast wie Lakritz! Ich rieche jetzt immer mehr: alle Schattierungen von Straßenstaub, Blumen, in Vorgärten gemähtes Gras … Fast möchte ich auf allen Vieren kriechen, meine Nase auf den Asphalt drücken und meine Eindrücke mit önologischen Metaphern zusammenfassen: eine Spur heidelbeerige Süße mit einem etwas sahnig-krautigen Unterton, ein Hauch von Granit mit einem fluffigen Akkord von Portlandzement!
    Jawoll! Diesmal habe ich alles richtig gemacht! Es ist noch früh am Nachmittag! Ich könnte den Rucksack irgendwo abstellen und tolle Dinge erleben! Wenn — ja wenn es in Weilerswist etwas zu erleben gäbe. Den Ort zu erkunden ist wie mit Schnupfen in Eiswürfeln baden: Im Wesentlichen besteht er aus einer langgezogenen Hauptstraße – das war’s. Das erste Hotel, an dem ich vorbeikomme, wirkt nett, dafür müsste ich wahrscheinlich schon für eine Nacht in der Besteckschublade einen Geldautomaten knacken. Ich schleiche davor ein paar mal auf und ab wie ein Mittvierziger vor dem Schaufenster eines Porsche-Händlers, dann beschließe ich, es doch erst einmal woanders zu versuchen. Den nächsten Hotelkandidaten erkenne ich erst, als ich im zweiten Anlauf direkt davor stehe: Es sieht aus wie ein x-beliebiges Mietshaus in Wanne-Eickel. Ich klingele – und noch bevor ich den Finger vom Knopf nehme, steht ein schlaksiger Typ der Marke »Ex-Rocker« vor mir. Um den schon arg gelichteten Schädel wallert etwas verloren eine Hand voll schulterlanger Haare, unter der hohen Stirn schauen ein paar sympathisch verwirrt wirkende
Augen durch eine runde Brille in die Welt. Jetzt sieht mich der schlaksige zwei-Meter-Typ allerdings ähnlich verdattert an wie ich ihn. Zimmer? » Äh, ja, natürlich, immer rein …« Die zwei Meter machen kehrt, bitten mich ein paar Stufen hoch und schlurfen in einen großen Saal, der wie eine Mischung aus Wohnküche, Rotkreuz-Seminarraum und Land-Disko aussieht. Laminatboden, 80er-Jahre-Kunstdrucke, ein grauer Tresen, dahinter eine hellgrün gekachelte Wand. An der Stirnseite des Saals ein Sofa, daneben, in einer Ecke, ein E-Bass auf einem kühlschrankgroßen Verstärker, der zufrieden vor sich hin brummt. »Mensch, da haben Sie aber Glück, ich war gerade auf dem Sprung … Zimmer kostet 45 Euro«, sagt mein Landlord, als würde er sich dafür entschuldigen, dass er meinen Lieblingstee gerade nicht da hat. Dann blickt er mich eine Weile an. »Macht’s Ihnen was aus, wenn das Zimmer zur Straße rausgeht?«
    Ich werfe den Rucksack in die Ecke. Mein Rücken sieht aus, als hätte jemand einen Eimer Wasser drüber geschüttet. »Gibt es hier ein Café?« Mein Rocker-Hotelier deutet auf das Lokal am Ende

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