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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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vor wenigen Hundert Jahren hätten seltsame Vögel wie ich noch einen großen Bogen um Bad Münstereifel machen müssen – Pilger konnten die Pest übertragen, da durften wir an die Stadttore klopfen, so lange wir wollten. Inzwischen ist man da etwas liberaler. Kein Wunder, denn gegen die Pest von heute hilft kein Stadttor mehr: Fernsehen und Internet kommen ja längst per Kabel oder via Satellit. Wer weiß, vielleicht wird man Wanderer in ein paar Jahren auf Web-Handys untersuchen – wär’ mir recht.
    Hinter dem Tor geht es bergauf. O. K. — das bin ich ja aus dem Bergischen Land gewohnt, aber holla: So steil war es bisher noch nie! Nach 120 Höhenmetern habe ich mir zwar einen repektablen Bergrücken erobert,
dafür bin ich aber fast so nass wie vorgestern Abend. Gut, dass jetzt ein kühler Wind aufkommt und mich gefriertrocknet … Dafür löst sich der bleigraue Wolkendeckel, der bisher über der Landschaft gelegen hat, allmählich in Wohlgefallen auf; bald sehe ich statt einer düsteren Waschküche einzelne Wölkchen über mir dahinziehen, auf den Hügeln rund um mich herum tanzen Lichtflecken. Über einer Hinweistafel an einem großen Wanderparkplatz entdecke ich einen geschnitzten blonden John Lennon mit Kontrabass auf dem Arm, der wahrscheinlich Heino mit Gitarre sein soll; darunter eine Landkarte, auf der mein heutiger Weg eingetragen ist. Sieht beeindruckend aus, aber ich komme gut voran – ehe ich so richtig bis drei zählen kann, habe ich schon vier Kilometer auf dem Tacho: Zeit für eine Pause.
    Ich suche mir eine Stelle mit schöner Aussicht aus: Um mich herum hat der liebe Gott eine Art Musterkatalog für Vorzeige-Hügellandschaften erschaffen. Die Luft ist noch etwas dunstig, was den Eindruck der Weite aber seltsamerweise nur verstärkt. Anschließend führt mich der Weg durch Nadelwälder, durch schlammige Pfade zwischen Äckern und hier und da auch mal eine Landstraße entlang, die wie ein fallengelassener Gürtel in der Landschaft liegt – aber es ist nicht viel los, und gegen Autos hilft mein Wanderstab-Trick. An irgendeiner Kreuzung in irgendeinem Ort stoße ich schließlich auf eine kleine Kapelle. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Den Grund habe ich schnell raus: Das Bauwerk wird von einem kleinen Tabernakel geziert. Diese Nische, in der normalerweise Heiligenfigürchen stehen, wurde offenbar erst vor Kurzem himmelblau gestrichen, der Baldachin darüber frisch mit Gold verziert, aber der kleine Podest darunter ist leer. Dadurch strahlt das Objekt eine fast Zen-artige Reinheit aus. Ich überlege, was ich da wohl reinstellen
würde. Was ist mir heilig? Ein Celan-Gedicht? Eine Mozart-Partitur? Dann entscheide ich, dass mir die Nische, so leer wie sie ist, am besten gefällt. Diesen Gedanken werde ich nach meiner Rückkehr noch einmal aufgreifen. Was sind eigentlich die zehn wichtigsten Dinge in meinem Leben?
    Kilometer zehn: Eine Bank. Ich fühle mich gelassen, entspannt und ruhig. Die Sonne hat die Wolken mittlerweile fast völlig weggelasert. Ich höre den Vögeln zu und vertiefe mich in die Umgebung. Möchte gar nicht mehr aufstehen. Ein rostiger, alter Passat kommt vorbei. Der Fahrer hält sein Lenkrad fest, als wäre es aus Maya-Gold, und starrt geradeaus wie festgeschraubt.
    Hinter Engelgau geht es in eine wirklich pittoreske Wiesenlandschaft mit toll geschwungenen Wegen, die es verdient hätten, mindestens einmal pro Tag von einer Schar junger Kunststudentinnen in tuffigen Aquarellen festgehalten zu werden. Am Horizont taucht die Ahekapelle auf – ein kleines, weiß gestrichenes Kirchlein, das früher mal Zentrum einer kleinen Siedlung gewesen sein soll. Angeblich soll es da seit dem Weltjugendtag 2005 einen Außenaltar geben, unter dem sogar ein kleines Pilgerbuch aufbewahrt wird! Vorher komme ich aber noch an der sogenannten »Pilgerdusche« vorbei, einem armdicken Rohr, das neben einer Bank auf den Weg hinausragt und mit einem Tank ein Stück weit den Hang hinauf verbunden ist. Wenn man einen Hebel betätigt, stürzt ein kräftiger Wasserschwall aus dem Rohr, unter dem man sich reinigen soll, bevor man in die Kapelle tritt. Mich erinnert das Ding allerdings mehr an eine schnöde landwirtschaftliche Bewässerungsanlage. Duschen mag ich auch nicht, aber ich wasche mir ausgiebig die Hände. Mit dem schönen

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