Santiago liegt gleich um die Ecke
was von Dauer ist. Und dann? O. K.: Ich habe mich darauf eingelassen, dass mir der Weg, dass ich mir irgendetwas zeigen möchte. Aber was, wenn sich herausstellt, dass es den roten Faden, den ich bisher zumindest in Ansätzen erkenne, gar nicht gibt? Jetzt begreife ich, dass ich mir völlig umsonst Sorgen gemacht habe: Denn dieser rote Faden bin ich. Und was am Ende der Reise unter dem Strich steht, wird die Person sein, die ich dann bin. Ganz einfach. So oder so. Die Angst, enttäuscht zu werden, ist völlig unbegründet! Irgendetwas wird schon da sein. Ob ich das spannend oder langweilig finden werde, hängt allein von mir ab â und wie ich zu mir stehe. Ich verweile eine Zeit lang im Regen, den Kopf auf meinen Wanderstab gestützt.
Langsam wird die Gegend wieder etwas welliger. Vor ein paar Tagen habe ich die Berge vor mir noch weit
entfernt am Horizont gesehen â jetzt stehe ich praktisch auf ihrer FuÃmatte. Der Hausmeister meiner Herberge verspricht mir ins Handy, in einer Stunde am Haus zu sein. Er hätte mir auch sagen können, dass er mir eine Million schenken will! Ich werde gleich ein trockenes Bett vorfinden! Das Angebot, mich abzuholen, schlage ich trotzdem aus. Kurz darauf stehe ich vor dem Werther Tor, dem nördlichen Stadttor von Bad Münstereifel. Mir gefällt, dass Autos davor rechts abbiegen müssen, während ich durch darf. Ich zelebriere meine Ankunft in dem Ort wie die Erstbesteigung des K2: Ich gehe so langsam wie möglich durch. Das Städtchen dahinter ist wunderschön: Krumme und schiefe Fachwerkhäuschen und Bauwerke aus alten Ziegeln, die noch jemand von Hand gemacht hat, allesamt offenbar mit der Andacht eines Keramikpuppensammlers restauriert â und das Beste: Die Menschen grüÃen! In den Schaufenstern der vielen Cafés sehe ich leckere Printen â scheinen eine Art Spezialität des Ortes zu sein. Ich gehe in eins hinein, bleibe mit meinem Rucksack fast an der Tür hängen, darf trotzdem ein Eckchen probieren und lasse mir ein riesiges Exemplar mit Mandeln einpacken. Als ich an meiner Herberge klingele, macht mir ein kleiner, rundlicher Mann mit Zopf, dickem Pullover, Baseballkappe und grauem Bärtchen auf und bittet mich ins Warme. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, hier zu sein«, sage ich, während unter mir fast der Boden wegschwimmt. »Doch, das kann ich mir denken«, sagt er.
Seit einer Woche freue ich mich auf eine Weise, die ich bislang noch nicht erlebt habe, auf jeden neuen Tag.
Meine kleine Zelle liegt direkt unter dem Dach. Zwei Betten, ein Tisch, Stuhl, Lampe, Waschbecken und ein Schrank, keine Tapete, dafür überall Holz wie in einem 70er-Jahre Bastelkeller. Das Allerallerwichtigste:
Die Heizung ist so heiÃ, dass man Tee drauf kochen könnte. Ich klatsche meine klammen Sachen auf den Radiator, verputze die duftende Monsterprinte, staune über die neue, fuÃballfeldgroÃe Blase unter meinem Fuà und stelle mein völlig durchweichtes Tagebuch zum Trocknen auf. Dann falle ich ins Bett und schlafe drei Stunden tief und fest durch.
Als ich anschlieÃend wieder in meine Schuhe steige, saugen sich die Socken sofort mit Wasser voll. Egal â vor dem örtlichen Aldi ziehe ich eine Flasche Orangensaft und einen Liter Trinkjoghurt auf Ex weg; auf dem Rückweg komme ich an einem Restaurant vorbei, das »En de Höll« heiÃt. Ein »Café Himmlisch« hatte ich schon, denke ich, dann ist jetzt eben mal die Hölle dran. Der Name passt nicht ganz: Drinnen kriege ich nicht nur ein zum Reinknien leckeres Steak, sondern lerne auch Alexandra kennen, eine groÃe, freundliche Kellnerin etwa in meinem Alter. Ich werde auf sie aufmerksam, weil sie sich am Nachbartisch mit einer Frau unterhält, deren Mutter offenbar im Ruhrpott wohnt, vielleicht zwei Kilometer von meiner Homebase in Herne entfernt! Als sie mir mein Bier bringt, erfahre ich, dass Alexandra hier in Bad Münstereifel arbeitet, aber 15 Jahre in Bochum gelebt hat. Später erzählt sie mir, wie gerne sie die Leute dort mag. »Mit den Dortmundern«, sagt sie, »konnte ich dagegen nie etwas anfangen.« Seltsam: Das ist in etwa das, was ich gestern Morgen noch mit meinem Rocker-Landlord besprochen hatte â jeder Ort wird eben von seinem ganz eigenen Menschenschlag bewohnt, klar. Nur zu Hause war mir das noch nie aufgefallen. Vielleicht muss man tatsächlich erst über 200 Kilometer
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