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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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Krawatte, die Frisur wie festgetackert. Drittens: Er gibt eine Audienz! Ich reihe mich in eine Schlange älterer Damen ein, die sich vor dem Mann aufbaut, die Dreiwettertaft-Haare zurechtrückend wie Teens vor einer Tokio-Hotel-Autogrammstunde.
    Heino hat überraschend große, aber weiche und warme Hände. Sein Gesicht ist von tausenden feiner Fältchen übersät, für die das Fernsehen viel zu grob ist. Selbst durch die dunkle Brille wirken seine Augen müde. Mensch: Ich habe Bands interviewt, die Heino-Songs nicht einmal dann als Samplerfutter verwenden würden, wenn man ihnen dafür eine Top-5-Platzierung in den britischen Charts versprechen würde.
Und jetzt stehe ich hier und habe Ehrfurcht vor der Eselsgeduld, mit der sich dieser Mann mit ganzen Busladungen voller Musikantenstadel-Groupies ablichten lässt. »Ach, so ist der immer«, sagt die Kellnerin, als sie meine Tasse abräumt. »Ist’n guter Chef. Immer noch keine Heino-Torte?« Wieder zu Hause, finde ich in meiner iTunes-Sammlung übrigens nicht weniger als acht (!) Heino-Stücke von Polenmädchen bis La Montanara . Von Can nur eins …
    Später entdecke ich einen kleinen Keramik-Laden. Während ich darin herumstöbere, blickt mich die Verkäuferin, die mit ihren bequemen Wallerklamotten und langen, hennaroten, lockigen Haaren auch gut in einen Esoterik-Shop gepasst hätte, ein ganzes Stück länger an, als jede möglicherweise bevorstehende geschäftliche Transaktion rechtfertigen würde. »Sagen Sie, waren Sie das gestern mit einem Rucksack? Im Regen?«, fragt sie. »Ich habe ihre Muschel gesehen.« »Dafür habe ich sie«, sage ich. » Das ist ja mal ein Zufall!«, jubelt sie. Und erzählt: Ihr Mann geht gerade in Rente – und damit er sich auf seinen neuen Lebensabschnitt einstellen kann, schickt sie ihn erstmal auf den Camino. »Ich würde ihm so gerne eine Muschel mitgeben. Ich habe schon überall gesucht …« Ich brauche etwa eine halbe Stunde, um ihr von meiner Odyssee zu der wunderbar schartigen Charakterschale zu berichten, die ich heute mit mir herumtrage. Zum Schluss erwähne ich die Muschel, die ich gestern in Euskirchen gesehen habe. » Das trifft sich ja gut: In dem Laden gehe ich ein und aus … Da hat sich der Tag für mich ja schon gelohnt!« Voilà: Damit hat also auch der Besuch in dem Buchladen gestern Morgen einen Sinn gehabt. Es hängt eben doch alles mit allem zusammen. Oder? Als ich später am Tag noch einmal an dem Laden vorbeikomme, lächelt mir die Frau durch das Schaufenster hindurch
zu. Ihre Haare sehen aus wie die Abenddämmerung nach einem Vulkanausbruch. Irgendwie wird das für mich das Bild des Tages. Und ich denke eine Weile darüber nach, was für tolle Begegnungen mir diese Muschel schon beschert hat.
    Wieder wird mir etwas klar: Dieses Ding ist alles andere als ein Stück Pilgerfolklore. Sondern ein Symbol, das jedem klarmacht: Hier ist jemand auf der Suche! Auch so funktioniert der Jakobsweg: Die Leute erkennen mich als Pilger und sprechen mich schon deshalb anders an als jemanden, der außer einer Jack-Wolfskin-Tatze nichts weiter an der Jacke hat. Kein Wunder, dass sich die Gespräche dann automatisch um Dinge wie Loslassen, Reisen und Ankommen drehen. Die Muschel sorgt dafür, dass ich auch von anderen Menschen immer wieder an den eigentlichen Zweck meiner Wanderung erinnert werde. Der Jakobsweg ist ein Labor. Ein Reagenzglas aus Menschen.

Ein Vollblut-Pilger und ein verschlossenes Burgtor
Sonntag, 19. April – Bad Münstereifel bis Blankenheim
    Geht doch! Rechtzeitig einen Schontag eingelegt und schon bin ich frisch wie Sylter Morgenluft! Keine zehn Minuten nach dem Aufwachen verbringe ich bereits etwas Zeit mit meinem neuen Magnolien-Duschgel. Dann Rucksack gepackt, fertig – neun Uhr, Tür zu, los! Als das Schloss klickt, muss ich lächeln, weil mir der Abschied so leicht fällt.
    Aktueller Tachostand: 232,9. Heute geht’s bis Blankenheim, etwa 20 leichte bis mittelschwere Kilometer — bitte schön! Laut Reiseführer dürfte mich heute allmählich die Eifel an die Hand nehmen. Bad Münstereifel ist bereits Voreifel , mein Tagesziel wird schon in der Kalkeifel liegen, in ein paar Tagen darf ich meine Ex-Blasen dann in der Hocheifel spazieren führen.
    Zunächst muss ich jedoch durch das Heisterbacher Tor. Komisches Gefühl: Noch

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