Santiago liegt gleich um die Ecke
zwar wieder eine LandstraÃe entlang wandern, aber es ist so wenig Verkehr, dass ich kurz überlege, mich für ein paar Minuten auf den warmen Asphalt zu legen. In Waldorf selbst fällt mir als erstes Charlyâs Hütte auf â eine Verpflegungsstation für Wanderer und Radler. Ein ebensolches (als »Radler« versteht man in gewissen Gegenden Deutschlands eine Mischung aus Zitronenlimo und Bier) könnte ich jetzt gut vertragen: Ich höre Geschirr klappern und gehe rein. Den Rucksack lasse ich ohne Aufsicht drauÃen stehen. Hoffentlich klaut ihn einer! In der Hütte â eigentlich eine Kneipe â treffe ich Charly persönlich, einen freundlichen zwei-mal-zwei-Meter-Mann Marke »Wildecker Herzbuben«. Er macht mir a) klar, dass er eigentlich zu hat, aber b) immerhin einen Kaffee. Als er meine Muschel sieht, fällt ihm ein, dass er öfter Pilger da hat, allerdings andere: Ein guter Teil meiner heutigen Strecke wird offenbar auch von Kollegen genutzt, die sich einen Besuch des Grabs des Apostels Matthias in Trier auf die Fahne geschrieben haben. Im Unterschied zu mir scheinen die Matthias-Brüder aber ausgesprochen zähe Burschen zu sein â Charly zufolge machen sie locker 50 Kilometer pro Tag! O. K.: Wahrscheinlich haben die gerade mal eine Packung Tempotücher als Gepäck dabei und machen das vermutlich auch nicht drei Wochen am Stück.
Ein paar Stunden drauf nehme ich aber tatsächlich die Gastfreundschaft meiner Co-Pilger in Anspruch, wenn auch indirekt: Ich mache Rast an einem Matthias-Wegkreuz, das, wie es sich für das Relikt einer Wandererbruderschaft gehört, mit einer hübschen Bank ausgerüstet ist. Als ich die Brötchen auspacke, mit denen ich mich in Blankenheim eingedeckt habe, fällt mir allerdings etwas Seltsames auf. Erstens: Es sind nur noch 13 Kilometer bis Kronenburg! Zweitens: Was habe ich die ganze Zeit seit Charlys Hütte gemacht? Hatte ich mich seither wirklich dabei? Komisch: Ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten Stunden auch nur einen einzigen bemerkenswerten Gedanken gehegt zu haben.
Nach etwas Grübeln fallen mir immerhin ein paar Gerüche ein: Irgendwie laufe ich den halben Tag durch Wolken von Düften, die ich zum Teil seit meiner Kindheit nicht mehr wahrgenommen habe. Silage, Heu, Rindviecher, staubige StraÃen ⦠Auf den kommenden Kilometern wünsche ich mir diesen Zustand zurück: Zwischen meine Schritte schleichen sich auf einmal Gedanken an meine Arbeit. Es fühlt sich an, als würde ich dicke Ascheflocken einatmen. Stimmt ja: 14 Tage habe ich hinter mir, vielleicht noch eine gute Woche vor der Nase ⦠Und? Schon was im Körbchen? Eher nicht, oder? Ganz leise ergrünt in mir eine fiese Idee: Wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, wenn ich mich die letzten 14 Tage an meinen Schreibtisch gesetzt und Weichen gestellt hätte? Für die Zeit nach der Krise? Anstatt hier mit krummem Rücken durch den Wald zu laufen und mir eine Gegend anzugucken, in die ich sehr wahrscheinlich nie wieder einen Schritt lenken werde! Dann wird
mir allerdings klar, dass ich genau das eigentlich seit Tagen tue: Weichen stellen.
Ein paar Hundert Schritte weiter klopft plötzlich, in einem der hintersten Winkel meines Kopfes, ein weiterer, noch ganz durchsichtiger Gedanke an und bittet mit leiser, brüchiger Stimme um Beachtung. »Du musst dich eben entscheiden«, sagt er. »Hä? Wofür denn bitte? Und wieso überhaupt?«, frage ich mich. Inzwischen bin ich ja gewohnt, dass einem auf dem Weg aus heiterem Himmel plötzlich seltsame Sprechblasen kommen, aber das ist jetzt wirklich so rätselhaft wie der Spruch eines bekifften Orakels. »Na, du musst eben allmählich wirklich Weichen stellen«, sagt es in mir. »Aber in welche Richtung denn? Wo soll ich denn hin? Woran kann man sich denn heute noch festhalten? Reicht es nicht, wenn ich gelassener werde, um die Dinge zu ertragen?« »Festhalten? So etwas wie die Eine, allgemein gültige Wahrheit zum Dran-Festhalten gibt es doch gar nicht. Höchstens in der Physik«, sagt mein Gedanke, »nur Argumente für oder gegen etwas.« »Siehste! Woher soll ich wissen, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich nicht absehen kann, was am Ziel auf mich wartet?« »Eine Richtung willst du? Ein Ziel? Idiot! Eine Bestätigung willst du. Das ist alles, du Blödmann. Ist dir noch nicht
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