Santiago liegt gleich um die Ecke
natürlich als Schnapsidee: Manchmal ist Nichtstun eben keine Option, Handeln aber riskant. Wenn Freunde hungern, muss man eben mal mit einem Stück Brot unterm Arm in den Nebel rasen. O. K., war ein Versuch. Bin ja auch kein Philosoph.
Irgendwann wird mir das alles zu kompliziert. Ich für meinen Teil habe das Thema jedenfalls jetzt glatt: Ich will mir einfach nur im Spiegel zuzwinkern können, ohne rot zu werden. Sollen doch alle anderen machen, was sie wollen â das ist eben mein Weg. Bitteschön. Fertig jetzt? Nee ⦠damit habe ich lediglich die Tür geöffnet für eine weitere Erkenntnis, die mir nun aus heiterem Himmel vor die FüÃe kracht: Das Unterprogramm »Entscheiden müssen«, das ich in Kronenburg mit der detaillierteren Betrachtung des Ich-Problems betraut hatte, läutet ein Platinglöckchen und übergibt mir seine Lösung. Ich brauche eine Weile, die Botschaft zu raffen. Auszug aus dem Ergebnisprotokoll: Ich bin genau dann ich , wenn ich ganz bei mir bin. Wenn ich nicht nachdenken muss. Wenn ich in etwas aufgehe. Logisch. Klar soweit? Komisch nur: Plötzlich fühle ich mich, als nähme jemand eine Hand aus meinem Kopf und zeigte mir
eine Perle, die er darin entdeckt hat. Ich betrachte sie von allen Seiten und staune, weil sie schimmert wie ein irischer Regenbogen. Der Punkt ist: Es geht gar nicht um Nachdenken . Sondern ums Annehmen ! Ums Laufen lassen . Ich raffe plötzlich: Wer ich bin? Was soll die Frage! Zum Beispiel der, der jetzt hier läuft. Ohne drüber nachzugrübeln. Schon das Reflektieren über Standpunkte ist wie das Ausdenken neuer Schachregeln: Weit weg vom eigentlichen Problem. Der Gedanke, ich , und zwar ohne Nachdenken durch und durch einfach nur ich selbst zu sein, durchströmt mich plötzlich so massiv wie Adrenalin Miroslaw Klose vor dem entscheidenden Tor. Ich lache mich halbtot: Ich war tatsächlich all die Jahre auf der Suche nach mir selbst. Dabei hatte ich mich die ganze Zeit â¦! Ich habe wirklich geglaubt, es begriffen zu haben. Jetzt verstehe ich, dass ich mich all die Jahre selbst an einer Nasenleine durch mein Leben geführt habe. Ich habe mein Glück von den Meinungen fremder Leute abhängig gemacht! Was könnten die anderen denken? Wie mache ich es allen recht? Mein Leben bestand bislang viel zu oft aus Rollen, die ich mir von mittelmäÃigen Regisseuren habe aufdrängen lassen. Dadurch bin ich ins Schwimmen gekommen und habe nie etwas rechtes zustande gebracht. Dabei gibt es immer jemanden, der das, was man gerade tut, mies findet. Selbst wenn man aufbegehrt, macht man doch nur das, was andere einem aufzwingen â im Zweifelsfall eben das Gegenteil. Aber Opposition ist auch nur Opportunismus mit einem Minus davor. Ich bin dagegen nur dann richtig frei, wenn ich mich von allem, was von auÃen an mich herangetragen wird, löse. Die Botschaft ist ganz einfach: Tu, was du am besten kannst. Auf die Idee, auch nur darüber nachzudenken, wie man zu gewissen Dingen stehen soll, statt in sich reinzuhören, wie sich die eigene Haltung anfühlt, kann nur ein Idiot kommen, der immer versucht, ein anderer zu sein. Wie bekloppt kann man eigentlich sein? Ich atme tiefer durch. Spüre meine Schritte fester werden. Mein Gott: Ich bin fast 400 Kilometer gelatscht, um zu merken, dass ich all die Jahre neben mir hergegangen bin. Ob da noch was kommt?
Mein Leben bestand bislang viel zu oft aus Rollen, die ich mir von mittelmäÃigen Regisseuren habe aufdrängen lassen.
Probieren wirâs aus. Vielleicht sollte ich einfach dem Weg vertrauen anstatt selbst den Motor noch einmal anzuwerfen. Die Strecke ist noch lang genug heute! Also weiter. Ich entere das Ferschweiler Plateau und lasse mich vom Wald verschlucken. Hier haben schon vor vier- oder fünftausend Jahren Menschen
gesiedelt. Es gibt sogar eine alte Wikingerburg. Leider ist sie bei Weitem nicht so spektakulär wie gedacht: Ein steiler Hang, auf dem etwa seit der Bronzezeit in groÃer Unordnung ein Haufen fuÃballgroÃe, von Moos bepelzte Steine herumliegt. Der Name »Wikingerburg« ist eine Erfindung des Mittelalters â für die Leute, die das gebaut haben, waren die Normannen mit ihren Eisenäxten noch Science-Fiction. Trotzdem herrscht hier eine komische Stimmung: Ich fühle mich seltsam beobachtet und frage mich, wie stark sich die Landschaft hier seit dreitausend Jahren wohl geändert hat. Selbst
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