Santiago liegt gleich um die Ecke
Bäume sind über derartige Zeiträume wie Gras, das kommt und geht. Aber die Hügel und Felsen, die bleiben. Ich lege meine Hand auf einen der Steine.
Auf dem Weg zu meiner nächsten Station treffe ich endlich wieder auf Menschen: Sie stehen aufgeregt um einen Haufen Pferdemist herum und fotografieren glänzende schwarze Käfer, die darin herumklettern. Offensichtlich GroÃstädter. Dann stehe ich plötzlich vor dem Fraubillenkreuz: einem riesigen Stein, den vielleicht die Erbauer der Burg hier aufgestellt haben, vielleicht haben sie die Burg aber auch wegen dieses Steines gebaut, wer weià ⦠Jedenfalls wurde das Ding von einem heiligen Mann irgendwann in ein Riesenkreuz umgemeiÃelt. Ich gehe mit meinem neuen Ich auf das Objekt zu. Staune, wie kalt sich der Stein anfühlt. Halte mein Ohr dran â man soll darin eine Frau spinnen hören. Stattdessen vernehme ich nur eine Autobahn. Komischerweise finde ich auf meiner Karte später keine gröÃere StraÃe in der Nähe. Egal. Ein paar Meter neben dem Fraubillenkreuz steht eine kleine Hütte. Die Leute darin sehen mir erstaunt zu.
Dann habe ich endlich mein Rendezvous mit dem Endgegner dieses Levels. Holla â was ist das denn? Haushohe Steilwände, verwittert wie Helgoland nach
drei Wochen Salzsäureregen, dazwischen schroffe Klötze, die wie wütende Berserker aus dem Waldboden brechen â und der Pfad führt mich ganz dicht an ihnen vorbei. Mein Gott, darf ich da ohne Helm überhaupt lang? Manche der wüsten Brocken erinnern mich an diese düsteren Figuren von den Osterinseln in XXL, andere an die Gesichter von Tommy Lee Jones und Iggy Pop â und der Jakobsweg kommt mir auf einmal vor wie ein Bodyguard aus einem dieser Mafia-Filme, der einen zwingt, sich vor seinem Paten zu verneigen. Mann, gegen diese Formation wirken selbst die Pyramiden wie Brotdosen! Ich mache hunderttausend Fotos, alle paar Meter bleibe ich stehen, weil mir schon wieder ein Felsen besser gefällt als der davor â und weià doch, dass all das auf dem Bildschirm hinterher nur flach, winzig und unbedeutend aussieht. Unbedeutend und winzig ist hier aber nur einer: Ich mit meinem kleinen, frisch entdeckten, niedlichen, kleinen Ego! Irgendwann fällt mir noch etwas auf: Regen und Wind alleine schaffen sowas nicht ⦠Die Steilwände sind ausgespült, als hätte da über tausende von Jahren eine Brandung dran genascht. Tatsächlich: Ich stehe vor Sandsteinfelsen, die sich aus Ablagerungen eines alten Meeres gebildet haben. Mein Gott: Wie lange mag es gedauert haben, aus einer massiven Felswand derartige Riefen herauszuwaschen? Und wo bitte ist dieser Ozean überhaupt? Hier gibt es weit und breit nicht einmal einen Tümpel! Wie viel Zeit braucht es, etwas verschwinden zu lassen, das das hier formen konnte? Für diese Felsen bin ich nur ein Krümel, den die Jahrmillionen vorbeiwehen. Die spüren mich nicht mal. Na super: Da ist man gerade dabei, sein dummes Leben ein klein wenig in den Griff zu bekommen, da macht einem der Weg mal eben klar, wie klein und völlig egal man doch in Wirklichkeit ist.
Aber keine Sorge: Das Gegengift gibtâs gleich am sogenannten Bildcheslay, einem einsamen Felsen mit einer natürlichen Nische, in die jemand eine Marienfigur gestellt hat. Auf dem Klotz steht ein kleines Kreuz aus Stein. Das Arrangement wirkt neben den Riesentrümmern vorhin wie der Versuch, einem Urwald seinen Schrecken zu nehmen, indem man darin ein Weizenkorn fallen lässt. Trotzdem verstehe ich sofort, was mein Weg mir sagen will! Es gibt nämlich einen kleinen, aber wichtigen Unterschied zwischen mir und diesen uralten Steinen: Ich bin für diese Riesendinger zwar nur einer dieser dicken Brummer, die jeden Sommer gegen Fensterscheiben fliegen. Aber ich kann mir immerhin über ein paar Dinge Gedanken machen. Diese Felsen nicht. Ihr Alter nutzt denen gar nichts! Da habâ ichâs dann doch besser getroffen: Ich merke wenigstens, dass es mich gibt. Und nutze diese Tatsache gleich, mich ein wenig zu schämen. Herrgott: Das menschliche Gehirn ist das komplexeste Ding, das wir im Universum kennen! Ãber uns erkennt das Weltall sich selbst! Und ich Idiot benutze dieses Gottesgeschenk dazu, mir zu überlegen, was ich damit anfangen soll! Seit über 40 Jahren! Es wird Zeit, langsam mal etwas auf die Reihe zu kriegen damit! Ich habe mein Leben lang vor einem Klavier gesessen
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