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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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heute tatsächlich hier, sind aber schon wieder weitergezogen. Seltsam, dass ich ausgerechnet mit denjenigen Pilgern, deren Weg ich am häufigsten gekreuzt hatte, am wenigsten gesprochen habe.

Endgegner, Pilgerabitur, Abschlussoffenbarung?
Samstag, 25. April – Mettendorf bis Echternach
    Fanfarenschall? Ich fahre hoch, als hätte ich unter meinem Kopfkissen eine Tarantel ertastet. Viertel vor sieben! Feueralarm? Bin ich schon in Trier? Was war denn das? Kurz darauf erhebt sich vor meiner Tür ein Geraune wie auf einer Viehauktion vor der Ankunft des wichtigsten Stiers; allmählich füllen sich erst der Flur und dann der Wintergarten mit fröhlich quatschenden Leuten. Nochmal einschlafen? Nicht dran zu denken. Ich fühle mich wie ein soeben hingeworfenes Mikadospiel. Immerhin: Klamotten trocken – da könnten die Trompeten sogar den Bundespräsidenten ankündigen: Das einzige, was mich jetzt noch ein wenig aus der Ruhe bringen würde, wäre ein ungehobelter Motorrad-Cop, der meine Schuhe konfisziert.
    Ich trödele ein wenig herum, dusche ausgiebig, packe den Rucksack ohne hinzugucken und gehe frühstücken. Am inzwischen weitgehend leergeräumten Buffett offenbart mir die Kellnerin des Rätsels Lösung: Der Wanderverein zählt zufällig auch zwei Trompeter zu seinen Mitgliedern – und die haben eben Spaß dran, ihre Pilgerbrüder und -schwestern morgens stilecht aus den Federn zu locken.
    Ich trete aus dem Hotel heraus und laufe in einen Kühlschrank. Boah, ist das kalt! Als ich aus dem Bäckerladen komme, ist auch noch die Sonne weg; irgendwie ist der Himmel in den letzten fünf Minuten ergraut. Ich frage zwei Passanten: Einheimische sollen Wetterphänomene ja besser deuten können als Durchreisende. Sie gucken sich an, dann die Wolken,
dann mich. »Regen hamse jedenfalls nicht angesagt«, meint der eine. »Nee, ich glaub’ auch nicht«, der andere. Ich erinnere mich an die Schlagzeile der Zeitung, die beim Bäcker auslag. Da stand sinngemäß: Sonne, Sonne, Sonne . Immerhin: Diesmal wird es mal nicht sofort steil. Zunächst gibt’s ein Stück Landstraße, dann darf ich eine Weile unverschämt charmanten Pfaden folgen, die von krummen Zaunpfählen, Löwenzahn-Wiesen und ungelogen den knorrigsten Obstbäumen gesäumt werden, die ich je gesehen habe. O. K. – das Grün in ihrer Krone stammt von Misteln, die sich hier einen kleinen Ferienpark eingerichtet haben. Dafür scheinen den Leuten hier irgendwann die Muschelschildchen ausgegangen zu sein: Ich finde jetzt immer öfter Tafeln, auf die jemand mit weißer Farbe schlicht und doch treffend »Jakobs-weg« geschrieben hat. Hier werden sie persönlich bedient! Irgendwann stoße ich auf ein Schild »Naturpark Südeifel – Auf Wiedersehn! Gute Fahrt « – und stapfe nur umso entschiedener voran: zu Fuß! Irgendwo ist dafür die Entfernung nach Santiago de Compostela angegeben. 2.400 km. Nett – aber mir reichen die 400 Kilometer, die ich bald zusammenhabe! Immerhin ist der graue Spuk über mir bald vorbei: Die geschlossene Wolkendecke bekommt allmählich Löcher wie ein zu lange benutztes Spültuch.
    An einer der nächsten Kreuzungen gerate ich in leichte Verwirrung: Karte sagt rechts, Wegweiser links – was mir einen fiesen, kleinen Extrakilometer einbringt. Trotzdem fluppt es heute! Dabei tanzen mir die ganze Zeit diese Zurücklass- und Entscheidungs-Dinge im Hirn herum. In mir denkt es wie in einem CERN-Server. Na super: Zehn Tage passiert fast nix und dann rappelt es in der Kiste, als ob mein Leben davon abhängt … Eine Woche säen, zwei Wochen ernten , denke ich. O. K., dann mal los: Was möchte
ich zurücklassen? Vielleicht das, was übrig bleibt, wenn ich alles Überflüssige abgeworfen habe? Was sollen deine Kinder von dir behalten, wenn sie mal die Wohnung entrümpeln? Woran sollen sich einmal meine Freunde erinnern? Vermutlich würden sich da viele Menschen dasselbe wünschen. Aber handfest ist was anderes. Hey – würde es nicht reichen, sein Leben so zu führen, dass man wenigstens den Erben das ihre nicht versaut? Gut: Das ist ein bisschen so, als würde man im Nebel lieber stehenbleiben statt mit 180 gegen eine Wand zu fahren – man macht zwar nichts kaputt, kommt aber auch nicht voran. Schon der nächste Kilometer entlarvt diesen brillanten Gedanken

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