Santiago, Santiago
zufrieden, daß er, der er so viele undankbarere Dinge zu tun hat, einmal etwas Gutes auf so einfache Weise hat tun können. Auch Polizisten sind Menschen.
Dann durchqueren wir die Altstadt, die wie viele alte spanischen Städte unter einer Festung am Hang eines Hügels gebaut ist, und lassen die Häuser bald hinter uns. Es geht über ein kleines Flüßchen, das zwischen Bäumen dahinfließt und dann auf eine erste Höhe hinauf. Oben sind die Wiesen und Felder durch Mauern und Hecken unterteilt. Die Landschaft mutet mich prähistorisch an. Die Mauern bestehen aus schweren Granitblöcken. Schulterhohe Keile ragen da und dort aus dem Boden. Menhire? Keltische oder vorkeltische Baukunst? Ich versuche, in ihrer Lage eine geometrische Ordnung zu entdecken, aber es gelingt mir nicht. Immerhin: nach dem »Guía del peregrino« sind hier archäologische Funde gemacht worden.
Wenig später kommen wir zu einer uralten Kirche. Sie ist von einer Mauer umgeben, und man hat in moderner Zeit auf ihrer Innenseite Reihen von jenen Grabmälern hingebaut, kleine Mausoleen sozusagen, die man in vielen romanischen Ländern findet. Das ist uns alles sehr fremd. Aber die Kirche selber ist bedeutend. Die Figuren des Bogenfeldes über dem Portal und die Kapitelle sind von archaischer Einfachheit, einige Motive könnten vorchristlich sein. Wir verstehen ihre Symbolik nur zum Teil, auch darum, weil der Stein stark verwittert ist.
Während wir vor dem Portal stehen, kommt der alte Pfarrer und fragt uns, ob wir das Innere sehen möchten, schließt die Tür auf und läßt uns hinein. Auch im Inneren ist das Gotteshaus voller archaischer Formen, die allerdings vielfach verändert und umgebaut worden sind, ein Meer von Problemen für einen Kunsthistoriker. Der Pfarrer erklärt uns, daß die Kirche der letzte erhaltene Teil eines Klosters ist, von dem schon eine Urkunde aus dem Jahre 874 spricht. In diesem Jahre haben die Enkelinnen Karls des Großen in Zürich ihre neue Klosterkirche, das Fraumünster, eingeweiht.
Dann geht es über niedriger werdende Hügel und durch grüne Täler westwärts. Wir kommen durch zahllose kleine Dörfer — ich habe an diesem Tage ihrer zwanzig gezählt. Sie bestehen meistens aus wenigen alten Häusern. Manche sind unbewohnt, und die Dächer fallen ein: Entvölkerung auch im flacheren Lande. Überall aber ist noch die hohe Kunstfertigkeit der galizischen Baumeister zu erkennen. Die Mauern sind fugenlos glatt gearbeitet, sie zeigen kaum je Risse. Wenn ein Haus einstürzt, so ist es der faulende Dachstock, der zusammenbricht. Meistens ist im Untergeschoß der Stall, mit kleinen Fenstern ohne Rahmen und Glas, bloße »Windaugen«, darüber der Wohnteil der Menschen, mit größeren Fenstern. So haben auch die Walser in den Alpen ursprünglich ihre Häuser gebaut.
Nach einem letzten Hügelzug öffnet sich vor uns ein breites Tal. Es muß das Tal des Miño sein. Den Fluß selbst sehen wir noch nicht, er fließt in einer Vertiefung. Aber auf der Gegenseite erkennen wir die Häuser von Portomarín, in ihrer Mitte eine mächtige, festungsartige Kirche.
Jetzt sind wir am Rande der Talrinne und blicken auf den Fluß hinunter. Ein interessantes und zugleich unheimliches Bild bietet sich uns dar. Wir blicken sozusagen in das Grab einer mittelalterlichen Stadt. Der Fluß fließt mit wenig Wasser am Grunde eines Stausees, der zu diesem Zeitpunkt entleert ist. Im und am Wasser stehen zahlreiche Ruinen: die Pfeiler einer alten Brücke, Fundamente von Mühlen, die einst im Fluße gestanden haben, mit ihren Stegen und Wehren, am Rande die Mauern ganzer Häuserzeilen und, dem Fluß entlang, die alten Ufermauern, an denen einstmals die Flußschiffe ein- und ausgeladen worden sind. Alle diese Reste menschlichen Wohnens und menschlicher Tätigkeit sind braun-grau gefärbt, denn sie stehen normalerweise unter Wasser. Jetzt ist dieses Grab geöffnet, und wir blicken mit einer Mischung von Neugier und Schauer in seine Tiefe: ein Sinnbild der Vergänglichkeit menschlicher Werke.
Das neue Portomarín ist an den jenseitigen Talhang hinauf verpflanzt worden. Über eine hohe neue Brücke kommen wir hinüber. Die Stadt wirkt sympathisch modern durch ihre weiten Gassen, zugleich aber ein wenig unwirklich, denn die Gebäude sind zu einem guten Teil historisch, vom Talgrund heraufgeholt und hier rekonstruiert. Bei der Kathedrale San Nicolas tragen alle Steine noch die Nummern, die es erlaubt haben, sie Stein für Stein neu zu errichten, so wie sie
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