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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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Probleme keinerlei Hilfe anbieten, ja, sie ihrer Welt entfremden. Ihre Lebensform stellt diese Menschen vor schwere Identitätsprobleme. Wer bin ich, der ich da draußen, weit ab von den großen Zentren, meinen Kohl pflanze und meine Kühe hüte? Was ist so eine Mauer, die Anstrengung ihrer Errichtung und die Hingabe zu ihrer Vollendung wert? Bin ich dumm, der ich noch so etwas baue? Im Fernsehen treten doch die »modernen Menschen«, in ihrer eleganten Erscheinung und mit ihrem selbstsicheren, fixen Reden auf. Wer bin ich, der ich die Worte, die ich spreche, zweimal wäge und der ich versuche, meine kleine, aber nichtsdestoweniger komplexe Welt zu verstehen, so daß ich darin richtig handle? Die Medien und ihre Werbung geben vor, sich an den Bedürfnissen der Hörer und Zuschauer zu orientieren. Was für ein oberflächlicher Bedürfnisbegriff, und was für eine Ratlosigkeit vor den wirklichen Problemen, die sich den Menschen eines Landes stellen. Welchen Landes? Sicher nicht nur Spaniens.
Nach dem Dorf steigt der Weg in einem Wechsel von Schatten und Licht durch einen Kastanienwald auf. Er ist zwischen Felsen eingeschnitten. Wo er flacher verläuft, begleiten ihn Mauern links und rechts. Er war früher einmal mit groben Platten gepflästert, aber der Belag ist nicht mehr intakt. Uns Wanderern tut das nicht weh, aber für die Zweiräderwagen bringt es bei nassem Wetter Schwierigkeiten.
Auf der Höhe kommen wir aus dem Wald heraus, und es geht nun auf einer sonnigen Höhe bequem vorwärts. Zu unserer Linken verläuft das Tal, in dem an einer Variante des Jakobsweges das Kloster Samos liegt. Wir werden es nicht sehen, kommen nun aber gegen das Dorf San Xil. (»X« ist im Gallegischen wie im Katalanischen der alte Buchstabe für unser »Ch«, das alte griechische Chi.) Hier gebe es einen schönen Kelch aus dem 15. Jahrhundert, heißt es im Pilgerführer. Wir sind nicht so sicher, ob wir ihn sehen möchten. Aber da arbeiten zwei Männer an einem Graben, und drei Frauen stehen daneben und tauschen mit den Arbeitern heitere Bemerkungen aus. Ich versuche es mit einem spanischen Spruch, und die Leute gehen bereitwillig auf das Gesprächsangebot ein. Wo wir herkommen? Aus der Schweiz? »Buen País.« In diesen Dörfern kennt jeder jemanden, der in Zentraleuropa gearbeitet hat. Wir möchten wissen, wozu hier gegraben wird. Es wird eine neue Wasserleitung gelegt: der Fortschritt der Hygiene. Die eine Frau fragt uns spontan, ob wir die Kirche sehen möchten. Da können wir nicht nein sagen.
Es ist ein ganz bescheidenes Gebäude, nicht höher als ein einstöckiges Haus. Aus dem offenen Vorraum kommt man in das eigentliche Kirchenschiff. Es ist so groß wie ein großes Wohnzimmer. Jede Frau des Dorfes hat hier ihren persönlichen Betstuhl. Und die Männer? möchten wir wissen. Die stehen dahinter, einige wohl auch vor der Kirche. Der Altar ist ganz einfach, wohl vor Zeiten vom örtlichen Schreiner angefertigt, aber es stehen einige Blumen darauf.
Die Frau zeigt uns auch ein kleines Holzkreuz, das gegen allerlei Krankheiten wirken soll. Sie sagt das nicht mit letztem Ernst, scheint aber wie ein berühmter Physiker davon auszugehen, daß es auch wirkt, wenn man nicht ganz daran glaubt. In der Sakristei gibt es noch Windlichter auf Tragstangen, die früher bei Prozessionen getragen wurden. Sie scheinen aber nicht mehr benützt zu werden. Die Frau, die das Sigristenamt wahrnimmt, zeigt uns ihre Kirche mit Freude und Stolz, auch wenn es hier keinen Pfarrer mehr gibt.
Zum Schluß sollen wir noch den alten Kelch sehen. Dazu müssen wir allerdings noch einen Moment warten, denn er wird in einem anderen Haus von einer anderen Familie verwahrt, und die junge Frau ist mit dem Traktor schnell auf ein Feld gefahren. Wie sie zurück ist, holt sie ihn bereitwillig heraus. Sie verwahrt ihn in einem Plastiksack, wo, das verrät sie uns nicht. Der Kelch hat einen großen, ziselierten Fuß, einen hohen Hals und einen kleinen vergoldeten Becher. Wir verstehen zu wenig von der Goldschmiedekunst des 15. Jahrhunderts, um ihn richtig würdigen zu können. Aber die ganze Begegnung verläuft so herzlich, daß uns die Zeit nicht reut. Ich persönlich komme allmählich über mein Trauma von Pradelo hinweg. In San Xil scheinen wir den richtigen Ton getroffen zu haben.
Dann geht es auf der sonnigen Höhe weiter nach Westen, zwischen Weiden und Hecken. Das Tal unter uns ist grün und bewaldet. Wir kommen auf die andere Seite des Höhenzuges und sehen nun in

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