Santiago, Santiago
Krankengeschichte zu Ende zu erzählen. Sie führt über die Notfallstation des Universitätskrankenhauses von Santiago und den dortigen Flughafen nach Zürich zurück, und am Ende des Zwischenfalles befinden Verena und ich uns wieder in Palas do Rei. So gibt es auf unserer Fußreise nur einen Abschnitt von 16 Kilometern, von dem ich nichts zu berichten weiß, weil wir ihn im Wagen unseres Helfers rasch durchfahren haben. Aber am folgenden Tag sind wir dort weitergewandert, wo er uns hingebracht hat.
Der Pilger Herbert und das Pulpo-Abenteuer
59. Tag: Von Palas do Rei nach Arzúa
So treten wir den zweitletzten Tag unserer Reise wie am Anfang zu zweit an. Peter und Madelon sind aufs Radfahren verwiesen. Es geht weiter durch eine Landschaft von sanften Hügeln. Nur in Abständen schneidet ein tieferes Tal unseren Weg, dann müssen wir an die hundert Meter ab- und wieder aufsteigen. Kastanienwälder wechseln mit Weiden. In der Nähe der Dörfer einige Felder, viel Mais, wenig Getreide, es regnet hier zu viel. An sumpfigen Stellen wachsen Birken, und am Wegrand blühen die letzten Fingerhüte. Sie haben uns seit Le Puy begleitet. Über uns ziehen die Wolken vom Atlantik nach Osten. In der flachen Landschaft sehen wir sie aus der Ferne auf uns zukommen. Der Horizont liegt wieder als waagerechte Linie vor uns.
Die Art des Weges wechselt rasch: einmal ist es das kleine Sträßchen, das zwei Dörfer verbindet, dann der stille Waldweg, dann der alte Weg zwischen überwachsenen Mauern. Stellenweise treffen wir auch hier auf den groben Steinbelag der Römerstraße, flache Steine, deren Kanten im Laufe der Jahrhunderte rund und glatt geworden sind. Wo der Weg im Fels verläuft, sind die Wagenspuren stellenweise wie Gleise eingeschnitten. Wir denken natürlich wieder an die Römer, aber diese Gleise hat man auch noch später in den Stein gemeißelt. Die Wagen selber sind in Galizien womöglich noch urtümlicher als in Kastilien. Wir begegnen einem von Kühen gezogenen Zweiräderkarren, dessen Scheibenräder aus parallelen Brettern herausgesägt sind. Die vierkantige Holzachse ist fest mit ihnen verbunden, einfach in ein viereckiges Loch eingelassen und mit einem Holzsplint fixiert. Die Achse dreht sich mit den Rädern. Durch die Mitte der Brücke läuft ein Balken, der sich als starre Deichsel fortsetzt. Vorn dient ein einfacher Querbalken als Joch für die Tiere. In diesem stecken je zwei Stäbe, die senkrecht nach unten ragen und den Hals der Tiere umfangen. Die Wände des Wagens sind geflochten. Diese Konstruktionen sind schon aus prähistorischen Funden bekannt.
Die Dörfer haben weiterhin die graue Farbe des Natursteins, und die Mauern zeugen von der hohen Handwerkskunst der galizischen Maurer. Wir stoßen auf ein Backhaus, das genau wie eine Kapelle konstruiert ist: ein großer Vorraum, in dem das Holz gestapelt ist und Geräte aufbewahrt werden, und daran anschließend eine eingezogene runde Apsis, der Backofen selber. Der Kamin gleicht einem Dachreiter. Das ganze ist mit der gleichen Sorgfalt wie die Dorfkirche gefertigt, wohl von den gleichen Meistern.
Auch das Wetter ist irisch: ein wenig Sonnenschein, dann ein paar Regentropfen, manchmal ein kurzer Regenschauer, den der Wind aber rasch wieder verbläst. Wir können das Wetter brauchen, denn der Landstrich ist arm, und es gibt kaum eine »Bar«, geschweige denn ein Hotel. Die nächste Übernachtungsgelegenheit ist in Arzúa, und bis dorthin sind es 28 Kilometer.
Bald nach unserem Abmarsch in Palas do Rei sind wir auf Herbert gestoßen. Das Gehen fällt ihm schwer, die Schuhe drücken ihn, und seine Füße sind wund. Aber er erwähnt diese Tatsache nur beiläufig, und wie wir zusammen weitergehen, läßt er sich nichts mehr anmerken. Er ist Katholik, und die Pilgerschaft enthält für ihn ein Bedeutungselement, das in unserem Bewußtsein fehlt. Das körperliche Leiden, das Auf-sich-Nehmen dieses Leidens, gehört für ihn dazu. Abtötung des Leibes? Askese im ursprünglichen Sinn des Wortes? Nachfolge Christi? Herbert braucht alle diese Worte nicht, wir reden überhaupt nicht davon, sprechen vielmehr von seinem Beruf, den er heute ausübt.
Herbert ist Erzieher in einem Heim für behinderte Kinder und Jugendliche. Auch diese Arbeit hat für ihn eine tiefere Bedeutung: diejenige des Dienstes. Ich verstehe von diesen Dingen auch das eine und andere, kenne die entsprechenden Theorien und kann darüber gut reden. Aber mir kommt dieses Wissen klein vor, wenn ich es mit
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